Delia im Wilden Westen
Indianerart, an. Sie kletterte — etwas mühsam, den Mops auf dem Arm — einen jungen, dicht belaubten Baum hinauf, saß dort, ohne sich zu mucksen, und wartete ab.
Ihre stille Hoffnung erfüllte sich. Als die Sonne hoch am Himmel stand, leerten sich die Felder. Die Landsleute kehrten zum Essen in ihre Häuser zurück. Nur ein junger Bursche, vielleicht sechzehn Jahre alt, der den äußersten Zipfel eggte, blieb zurück. Er kam auf den Waldrand zu, setzte sich in den Schatten eines Baumes, knüpfte ein zusammengebundenes Vierecktuch auf, holte ein dickes Brot heraus und begann kräftig hineinzubeißen.
Richtiges Brot! Wie lange hatte Delia das nicht mehr gegessen! Sie spürte, dass auch der Mops, den sie immer noch fest an sich gepresst hielt, unruhig zu werden begann.
Vorsichtig schob sie den Lauf ihres Gewehres durch die Zweige. Sie richtete ihn gerade auf den jungen Burschen. „Hands up!“ schrie sie mit einer Stimme, die so tief und Furcht erweckend klingen sollte, wie es nur irgend möglich war.
Der Bursche erschrak nicht. Er schaute nur ein bisschen verwundert um sich. Delia kam auf die Idee, dass er vielleicht gar kein Englisch verstand, und wiederholte auf Deutsch: „Nimm die Hände hoch!“
Aber das wirkte noch weniger.
Da fuhr Delia ihn auf iowanokesisch an, und das verwirrte den Burschen, der bestimmt kein Wort davon verstand, so, dass er aufsprang und verblüfft zu Delia hinüberstarrte. Und dabei entdeckte er die Mündung des Gewehrs und ... ließ das Brot fallen, nahm die Hände hoch.
Delia sprach weiter auf iowanokesisch auf ihn ein, während sie sich den Stamm hinuntergleiten ließ. Sie setzte den Mops ins Gras, der sofort auf das Brot zuschoss und es brav Delia apportierte.
Sie brach es in drei Stücke, gab eines dem Mops, warf das zweite dem Burschen zu, behielt das dritte für sich selber.
Der Junge wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Parbleu!“ rief er. „C’est vraiment exorbitant!“
Delia begriff, dass sie einen jungen Franzosen vor sich hatte, und so raffte sie alle ihre französischen Kenntnisse zusammen — ein bisschen hatte sie in der kleinen Privatschule in Schönau gelernt — und erwiderte in der gleichen Sprache: „Excusez-moi, j’ai faim!“
„Was?“ schrie der junge Mann, nun vollkommen perplex! „Französisch sprichst du auch?“
„Und warum nicht?“ erwiderte Delia kühl, hielt ihr Gewehr aber immer noch auf ihren Gesprächspartner gerichtet. „Das habe ich doch in der Schule gelernt.“
„Ihr Indianer habt eine Schule? Da seid ihr ja besser dran als wir. Zu uns kommt kein Lehrer, und wenn unser Großvater uns abends noch etwas beibringen will, dann sind wir meist schon viel zu müde.“
„Ich kenne viele, die euch darum beneiden würden.“
„Das sagst du so! Es ist ein scheußliches Gefühl, wenn man schon fast erwachsen ist und weder lesen noch schreiben kann.“ Der Bursche sah sie mit unverhohlener Bewunderung an — so etwa, wie man ein Kalb mit zwei Köpfen auf einem Volksfest betrachtet. „Jetzt sag bloß noch, das kannst du auch!“
„Aber sicher“, sagte Delia. „Ich kann noch viel mehr! Aber nun setz dich wieder, es macht mich nervös, wenn du da herumstehst! Professor, hierher! Hör auf, herumzuschnuppernl“
Der Mops, der den fremden Jungen mit großem Interesse beschnüffelt hatte, kam sogleich, wenn auch nicht gerade freudig, zu Delia zurück.
„Was?“ rief der Junge. „Du nennst deinen Hund Professor?“
„Ja, so heißt er“, sagte Delia. „Weil er noch viel klüger ist als ich selber.“
„Kann er auch lesen und schreiben?“
Delia war nahe daran, dem großen Jungen einen riesigen Bären aufzubinden. Die Gelegenheit war zu verlockend. Aber dann fiel ihr ein, wie oft sie sich selber geschworen hatte, endlich das Schwindeln zu lassen. Und so sagte sie: „Bist du eigentlich so ein Trottel oder tust du nur so? Wie soll denn ein Hund lesen und schreiben können?“
Der Junge wurde ein bisschen rot. „Na, stimmt schon“, gab er zu. „Aber ich hätte mir auch nie vorgestellt, dass Indianer in einer Schule sind.“
Delia schlug die Augen zum Himmel. „Ich bitte dich, sieh mich doch richtig an ... ich bin ja gar keine Indianerin!“
„Nicht?“
„Nein! Ich heiße Delia Körner und komme aus Schönau in Deutschland. Nun kapiert?“ Sie ließ sich in sicherer Entfernung mit übereinandergekreuzten Beinen dem Jungen gegenüber nieder. „Und nun gib mir endlich was zu trinken!“ Sie tat einen
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