Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
bin ein Christ. Meine Religion sagt mir, daß wir vor Gott alle gleich sind, ob arm oder reich, vornehm oder niedrig, alt oder jung. Ich bin Dein Bruder, und Du bist meine Schwester; aber Deiner Jahre sind viel mehr als der meinigen; daher gebührt Dir der Platz zu meiner rechten Seite. Komm und laß Dich nieder!«
»Nur dann, wenn Du es befiehlst.«
»Ich befehle es!«
»So gehorche ich, Herr.«
Sie ließ sich zu mir führen und setzte sich an meiner Seite nieder; dann verließ ihre Schwiegertochter das Gemach. Die Alte blickte mir lange forschend in das Gesicht; dann sagte sie:
»Chodih, Du bist wirklich so, wie Du mir beschrieben wurdest. – Kennst Du Menschen, bei deren Eintritt sich der Raum zu verfinstern scheint?«
»Ich habe viele solche Leute kennen gelernt.«
»Kennst Du auch solche Menschen, welche das Licht der Sonne mitzubringen scheinen? Wohin sie nur immer kommen, da wird es warm und hell. Gott hat ihnen die größte Gnade gegeben: ein freundliches Herz und ein fröhliches Angesicht.«
»Auch Solche kenne ich; aber es gibt ihrer wenig.«
»Du hast Recht; aber Du selbst gehörst zu ihnen.«
»Du willst mir eine Höflichkeit sagen!«
»Nein, Herr. Ich bin ein altes Weib, welches ruhig nimmt, was Gott sendet; ich werde Niemand eine Unwahrheit sagen. Ich habe gehört, daß Du ein großer Krieger bist; aber ich glaube, daß Du Deine besten Siege durch das Licht Deines Angesichtes erringst. Ein solches Angesicht liebt man, auch wenn es häßlich ist, und Alle, mit denen Du zusammentriffst, werden Dich lieb gewinnen.«
»O, ich habe sehr viele Feinde!«
»Dann sind es böse Menschen. Ich habe Dich noch nie gesehen, aber ich habe viel an Dich gedacht, und meine Liebe hat Dir gehört, noch ehe Dich mein Auge erblickte.«
»Wie ist dies möglich?«
»Meine Freundin erzählte mir von Dir.«
»Wer ist diese Freundin?«
»Marah Durimeh.«
»Marah Durimeh!« rief ich überrascht. »Du kennst sie?«
»Ich kenne sie.«
»Wo wohnt sie? Wo ist sie zu finden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber wenn sie Deine Freundin ist, mußt Du doch wissen, wo sie sich befindet.«
»Sie ist bald hier, bald dort; sie gleicht dem Teïr, welcher bald auf diesem, bald auf jenem Zweige wohnt.«
»Kommt sie oft zu Dir?«
»Sie kommt nicht wie die Sonne, regelmäßig zur bestimmten Stunde, sondern sie kommt wie der erquickende Regen, bald hier, bald dort, bald spät und bald früh.«
»Wann erwartest Du sie wieder?«
»Sie kann noch heute in Lizan sein; sie kann aber auch erst nach Monden kommen. Vielleicht erscheint sie niemals wieder, denn auf ihrem Rücken lasten viel mehr Jahre, als auf dem meinigen.«
Das klang alles so wunderbar, so geheimnißvoll, und ich mußte unwillkürlich an Ruh ‘i Kulian, den ›Geist der Höhle‹ denken, von welchem die alte Marah Durimeh in ebenso geheimnißvoller Weise zu mir gesprochen hatte.
»So hat sie Dich besucht, als sie von Amadijah kam?« frug ich.
»Ja. Sie hat mir von Dir erzählt; sie sagte, daß Du vielleicht nach Lizan kommen würdest, und bat mich, für Dich zu sorgen, als ob Du mein eigener Sohn seist. Willst Du mir dies erlauben?«
»Gern; nur mußt Du auch meine Gefährten mit in Deine Fürsorge einschließen.«
»Ich werde thun, was in meinen Kräften steht. Ich bin die Mutter des Melek, und sein Ohr hört gern auf meine Stimme; aber es ist Einer unter Euch, dem meine Fürbitte nicht viel helfen wird.«
»Wen meinst Du?«
»Den Bey von Gumri. Welcher ist es?«
»Der Mann dort auf der vierten Matte. Er hört und versteht ein jedes Deiner Worte; die Andern aber reden nicht die Sprache Deines Landes.«
»Er mag hören und verstehen, was ich sage,« antwortete sie. »Hast Du gehört von dem, was unser Land gelitten hat?«
»Man hat mir Vieles erzählt.«
»Hast Du gehört von Beder-Khan-Bey, von Zeinel-Bey, von Nur-Ullah-Bey und von Abd-el-Summit-Bey, den vier Mördern der Christen? Sie fielen von allen Seiten über uns her, diese kurdischen Ungeheuer. Sie zerstörten unsere Häuser, verbrannten unsere Gärten, vernichteten unsere Ernten, entweihten unsere Gotteshäuser, mordeten unsere Männer und Jünglinge, zerfleischten unsere Knaben und Mädchen und hetzten unsere Frauen und Jungfrauen, bis sie sterbend niederstürzten, noch in den letzten Athemzügen von den Ungeheuern bedroht. Die Wasser des Zab waren gefärbt von dem Blute der unschuldigen Opfer, und die Höhen und Tiefen des Landes waren erleuchtet von den Feuersbrünsten, welche unsere Dörfer
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