Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
und Flecken verzehrten. Ein einziger, fürchterlicher Schrei tönte durch das ganze Land. Es war der Todesschrei von vielen tausend Christen. Der Pascha von Mossul hörte diesen Schrei, aber er sandte keine Hülfe, weil er den Raub mit den Räubern theilen wollte.«
»Ich weiß es; es muß gräßlich gewesen sein!«
»Gräßlich? O, Chodih, dieses Wort sagt viel zu wenig. Ich könnte Dir Dinge erzählen, bei denen Dir das Herz brechen müßte. Siehst Du die Brücke, auf welcher Du über den Berdizabi gekommen bist? Über diese Brücke wurden unsere Jungfrauen geschleppt, um nach Tkhoma und Baz geführt zu werden; sie aber sprangen hinab in das Wasser, um lieber zu sterben. Keine Einzige blieb zurück. Siehst Du den Berg mit seiner Felsenmauer dort zur Rechten? Dort hinauf hatten sich die Leute von Lizan gerettet, weil sie sich dort sicher glaubten, denn sie konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber sie hatten nur wenig Speise und Wasser bei sich. Um nicht zu verhungern, mußten sie sich Beder-Khan-Bey ergeben. Er versprach ihnen, mit seinem heiligsten Eid, die Freiheit und das Leben; nur die Waffen sollten sie abliefern. Dies geschah; er aber brach seinen Schwur und ließ sie mit Säbel und Messer ermorden. Und als den Kurden von dieser blutigen Arbeit die Arme weh thaten, da machten sie es sich leichter; sie stürzten die Christen von der neunhundert Fuß hohen Felsenwand herab: Greise, Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tausend Chaldani entkam nur ein Einziger, um zu erzählen, was da oben geschehen war. Soll ich Dir noch mehr erzählen, Chodih?«
»Halte ein!« wehrte ich schaudernd ab.
»Und nun sitzt der Sohn eines dieser Ungeheuer hier im Hause des Melek von Lizan. Glaubst Du, daß er Gnade finden wird?«
Wie mußte es bei diesen Worten dem Bey von Gumri zu Muthe sein! Er zuckte mit keiner Wimper; er war zu stolz, um sich zu vertheidigen. Ich aber antwortete:
»Er wird Gnade finden!«
»Glaubst Du dies wirklich?«
»Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was Andere thaten. Der Melek hat ihm Gastfreundschaft versprochen, und ich selbst werde nur dann Lizan verlassen, wenn er sich in Sicherheit an meiner Seite befindet.«
Die Alte senkte nachdenklich den ergrauten Kopf. Dann frug sie:
»So ist er Dein Freund?«
»Ja. Ich bin sein Gast.«
»Herr, das ist schlimm für Dich!«
»Warum? Denkst Du, daß der Melek sein Wort brechen wird?«
»Er bricht es nie,« antwortete sie stolz. »Aber der Bey wird bis an seinen Tod hier gefangen bleiben, und da Du ihn nicht verlassen willst, so wirst Du Deine Heimat niemals wiedersehen.«
»Das steht in Gottes Hand. Weißt Du, was der Melek über uns beschlossen hat? Sind wir nur auf dieses Haus beschränkt?«
»Du allein nicht, aber die Andern sämmtlich.«
»So darf ich frei umhergehen?«
»Ja, wenn Du Dir einen Begleiter gefallen lässest. Du sollst nicht Gastfreundschaft wie sie, sondern Gastfreiheit erhalten.«
»So werde ich jetzt einmal mit dem Melek sprechen. Darf ich Dich geleiten?«
»O Herr, Dein Herz ist voller Güte. Ja, führe mich, damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals solche Gnade widerfahren ist!«
Sie erhob sich mit mir und hing sich an meinen Arm. Wir verließen das luftige Gemach und stiegen die Treppe nieder, die in das untere Geschoß führte. Hier trennte sich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien Raum vor dem Hause, wo eine große Anzahl der Chaldäer versammelt war. Nedschir-Bey stand bei ihnen. Als er mich erblickte, trat er auf mich zu.
»Wen suchest Du hier?« frug er mich in rohem Tone.
»Den Melek,« antwortete ich ruhig.
»Er hat keine Zeit für Dich; gehe wieder hinauf!«
»Ich bin gewöhnt, zu thun, was mir beliebt. Befiehl Deinen Knechten, nicht aber einem freien Mann, dem Du nichts zu gebieten hast!«
Da trat er näher an mich heran und streckte seine mächtigen Glieder. In seinen Augen funkelte ein Licht, das mir sagte, daß der erwartete Zusammenstoß jetzt geschehen werde. So viel stand sicher: wenn ich ihn nicht gleich auf der Stelle unschädlich machte, so war es um mich geschehen.
»Wirst Du gehorchen?« drohte er.
»Knabe, mache Dich nicht lächerlich!« entgegnete ich lachend.
»Knabe!« brüllte er. »Hier nimm den Lohn!«
Er schlug nach meinem Kopfe; ich parirte mit dem linken Arme den Hieb und ließ dann meine rechte Faust mit solcher Gewalt an seine Schläfe sausen, daß ich glaubte, sämmtliche Finger seien mir zerbrochen. Er stürzte lautlos zusammen und lag
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