Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
der Tag der ewigen Liebe, welche ohne Ausnahme Alle umfaßt, den Sünder und den Gerechten, den Armen und den Reichen, den Vornehmen und den Geringen, den Begabten und den spärlich Ausgestatteten, und das ist das Evangelium, die frohe Botschaft, welche uns für das Erdenleben beglückt und die Seligkeit einer ewigen Zukunft verbirgt.
Diese Lehre von der Gottesliebe ist es, welche uns aus Geschöpfen zu Menschen, aus Sclaven zu Freien, aus Knechten zu Kindern macht. Sie lehrt uns die Aufgaben unseres Daseins erfassen, durch die Nacht zum Lichte, durch den Kampf zum Siege dringen, giebt dem Geiste ewige Schwingen, verleiht dem Gemüthe Kraft zur Ergebung und breitet das Abendroth der Hoffnung selbst über die trübsten und längsten Tage des Erdenlebens.
Wohl hatte der Messias deshalb ein Recht zu dem Rufe: »Kommet her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid; denn ich will Euch erquicken, und bei mir findet Ihr Frieden für Eure Seele!«
Eine solche Lehre mußte den Menschen unwiderstehlich mit sich fortreißen, ihn zum größten Opfermuthe befähigen und jedes, auch das größeste Hinderniß überwinden helfen. Der Meister besiegelte sie mit seinem Tode, die Schüler folgten ihm auf der Bahn des Martyrerthums nach und Tausende erlagen den Verfolgungen des Hasses und starben mit dem Worte der Liebe auf den erbleichenden Lippen.
Ueber Galiläa, der kleinen Provinz des Landes Kanaan, ging der Stern der Verheißung auf, stieg höher und immer höher und leuchtet nun über alle Welt. Ob auch die Wolke seinem Strahle sich entgegenstellt und ihn der Erde zu entziehen sucht, er dringt doch immer siegreich durch ihre Hülle. Ob Ignoranz das kleine Senfkorn der Christuslehre belächelt, ob Pedanterie den befeuchtenden Strom des göttlichen Wortes in Form und Dogma zwingen will, ob der Parteihaß den Andersgläubigen mit Bann und Fluch belegt, so gilt doch von Ewigkeit zu Ewigkeit die Verheißung: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!«
Jedes einzelne dieser Worte birgt eine Tiefe der Weisheit und der Wahrheit, an deren Ergründung noch späte Jahrhunderte zu arbeiten haben. Klar, einfach, groß und erhaben ist ihre Philosophie, die Philosophie der Liebe; aber schon die Jünger haben sie mißverstanden, und die hellen Sätze, welche dem Munde Jesu entflossen, wurden mit dunklem Kitte zu einem Bauwerke verbunden, in welchem man wohl von Liebe lehrt, sich aber wenig an Liebe kehrt.
Der Prediger, welcher von der Kanzel herab soeben das Hohelied der Liebe verkündete, eifert im nächsten Augenblicke gegen den Bekenner anderer Religionsformen; der Redner, welcher soeben von der Unverletzlichkeit der allgemeinen Menschenrechte spricht, vertheidigt oder ignorirt wenigstens im nächsten Satze die Bekehrung, welcher Millionen sogenannter armer Heiden zum Opfer gefallen sind. Der Sohn kommt vom Gottesdienste nach Hause, um seinen alten Vater über sich weinen zu sehen; der Geizige verläßt das Gotteshaus, um beim ersten Schritte in seine Wohnung den Armen von sich zu weisen; die Frauen besuchen die Kirche, um sich Stoff zu eitlen und lieblosen Urtheilen zu holen, und der Krieger – er stellt sich dem Feinde auf dem Schlachtfelde entgegen, und Jeder von Beiden bittet Gott, den Andern zu vernichten.
Ein kleines Wort ist es oft nur, eine kleine Verschiedenheit in der Auslegung, welcher die Anhänger der Lehre von der Liebe und dem göttlichen Frieden in zahlreiche Heerlager theilt, die einander mit allen zu Gebote stehenden Mitteln befeinden und anfechten. Wie wenig haben sie doch das Wort Dessen verstanden, dessen Lieblingsjünger in seinen letzten Tagen Nichts weiter zu sagen vermochte, als: »Kindlein, liebet Euch unter einander!«
Es ist ein Bild rührender Liebe, wenn Christus über Jerusalem klagt: »Ich habe Dich unter mich nehmen wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel; aber Ihr habt es nicht gewollt!« Dieser Ruf hat noch heute, nach fast zweitausend Jahren, volle Bedeutung. Die göttliche Liebe hält ihre Fittiche über die ganze Schöpfung gebreitet, und das freundliche Auge des Vaters wacht und waltet über alle seine Kinder; aber diese Kinder stehen einander in heimlicher und öffentlicher Feindseligkeit gegenüber und die Selbstsucht sucht ohne Unterlaß nach immer neuen Triumphen.
Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, so erfüllt uns die Freudigkeit, mit welcher die ersten Anhänger Christi in Leid und Tod gingen, mit
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