Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Vaters kennen zu lernen und von Grad zu Grad der Gotteskindschaft immer würdiger zu werden.
Der an den Erdenstaub gefesselte Geist vermag nicht, die Vollkommenheit zu entfalten, welche er später haben wird; der Stoff des Endlichen, des Vergänglichen hängt sich an ihn und beeinträchtigt sein Denken, Fühlen und Wollen. Deshalb klebt seinem Thun die Unvollkommenheit des Erdenlebens an, und im Streite zwischen Geist und Materie, zwischen Himmlischem und Irdischem tritt jene Eigenschaft des Menschen zu Tage, welche Sündhaftigkeit genannt wird.
Sie ist nicht ein Urzustand, sondern ein Ergebniß. Wie der Fuß des kühnen Steigers, der Spitze des Berges zustrebend, das morsche Gestein von seinem Halte löst, so daß es hinabstürzt zur Tiefe und den Untenstehenden verwunden und schädigen kann, so stiebt unter den mächtigen Schwingen des emporstrebenden Geistes das Irdische umher und droht Gefahr, ihn hinabzureißen in den Abgrund, aus welchem er den nun erschwerten Flug von neuem beginnen muß.
Der Gefallene erkennt in seinem Falle ein Uebel, dessen Ursache er nicht in dem Gesetze der Schwere, sondern in sich selbst und dem Einflusse des »Satans« sucht. Und doch lernt man kämpfen nur durch Kampf, und wie die Finsterniß nicht Finsterniß ist, sondern nur ein geringer Grad des Lichtes, wie die Kälte nicht Kälte, sondern nur ein niederer Theil der Wärme ist, so ist der Fehler des menschlichen Thuns nicht ein absolut Böses, sondern die Folge eines tieferen Grades geistiger Entwickelung.
Der Teufel ist nichts anderes, als der Geist der Erde, welcher von dem Herrn der Heerschaaren die Aufgabe empfing, die Menschen durch Nacht zum Lichte, durch Irrthum zur Wahrheit, durch den Zweifel zur Erkenntniß zu führen.
Das »Ich« hat seine Heimath auf der Erde. Es hängt an ihr und trachtet nach den Schätzen, »welche die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben und sie stehlen«. Der »Odem Gottes« aber, durch welchen der Schöpfer dem Staube das Leben einhauchte, hat seine Heimath in der Ewigkeit. Er hängt an Gott und trachtet hinauf nach der himmlischen Vollendung.
Die Vereinigung Beider, die sich im Menschen vollzieht, läßt die mannigfaltigsten seelischen Gestaltungen entstehen, welche seine Stellung zu Gott und den Mitgeschöpfen bestimmen. Jede dieser Gestaltungen aber ist ein Ausdruck der Liebe entweder zu sich selbst oder derjenigen, welche nach Außen thätig ist. Die Sünde ist nicht ein Kampf gegen Gott, sondern nur ein Resultat der in den Menschen gelegten Gesetze, nach welchen das »Ich« sich bald zu, bald gegen den »Odem Gottes« stellt, und je größer die Schlacken, welche dem Geiste anhingen, desto herrlicher offenbart sich die göttliche Liebe in Gestalt der ewigen Barmherzigkeit, welche nicht müde wird, zu rufen und zu locken: »Kommt her zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken!«
»Ob bei uns ist der Sünde viel,
Bei Gott ist viel mehr Gnade,«
und je heller uns die göttliche Liebe herniederleuchtet, desto höher flammt die unsrige ihr entgegen und erfüllt uns mit jener Seligkeit, welche Christus so einfachschön in den Worten ausdrückte: »Ich und der Vater sind Eins.«
Nur in dieser Einigkeit mit Gott lernen wir die Liebe erkennen, welche Gott selbst ist, und den besseren, den himmlischen Theil unseres eigenen Wesens bildet. Sie ist eine ganze, eine untheilbare, und vereinigt alle Glieder der Menschheit zu einem einzigen, unzertrennlichen Ganzen.
»Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm!« In diesem Worte hat das Ich seine Geltung verloren; denn der Mensch ist nicht mehr ich, sondern als Odem des Allliebenden ein Adom des Meeres von lebenden Wesen, welche den Zweck haben, nach vollendeter Bestimmung zurückzukehren zu dem Urquelle alles Lebens. Darum sagt der große Weise: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst,« und »Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet?«
Das Trachten, Gott zu finden und in seiner Liebe zu bleiben, wird mit dem Worte Religion bezeichnet. In ihr giebt sich die Liebe zu Gott in all’ ihrer Macht und Herrlichkeit, aber auch in all’ ihrer Verirrung zu erkennen, und die Geschichte der Religionen ist zugleich eine Geschichte der geistigen Entwickelung des Menschengeschlechtes mit all’ ihren Alb- und Irrwegen. Ihr sei eine unserer Betrachtungen gewidmet.
Wenn die Hingebung des
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