Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennen zu lernen und einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreißigfüßiger »Prinzipal« ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften »Vox humana« zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und er infolge dessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niedern Lüften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.
Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: »Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne«. Manchmal hieß es auch »sie hat Vapeurs«. Was das war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht.
Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine »Erziehung« nannte. Notabene mich »erzog« er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte fest an das, was er wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu können. Leider aber war er sich über die Wege,
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