Das Vermaechtnis
Prolog
Schottland, 1740
Der Mond tauchte die sanften Hügel des schottischen Hochlands in sein silbernes Licht. Nathaira Stuart zitterte, als sie neben Vanoras leblosem Körper aus dem Sattel glitt. Niemand wusste, dass sie zurückgekommen war. Niemand würde es verstehen – und sie wollte auch nicht, dass jemand es verstand. Vanoras weißes Gewand hob sich hell von den dunklen Felsen ab, die ihr Totenbett geworden waren. Nathaira kniete nieder und griff nach der Hand der Toten.
Vor wenigen Stunden hatte sie ihre Mutter zum ersten Mal berührt – im Moment ihres Todes. Vanora hatte nach ihr gefasst, nach der Hand ihrer Mörderin? Oder nach der Hand der Tochter?
Nathaira schluckte. Hätte sie ihren Dolch wirklich in die Brust der eigenen Mutter stoßen können, wenn sie die Wahrheit vorher gekannt hätte?
Tränen rannen ihre Wange hinab.
Mo nighean. Mo gràdh ort,
hallten ihr wieder und wieder Vanoras vergebende Worte durch den Kopf. Die Hexe hatte sie also geliebt? Warum hatte sie sich ihr nie gezeigt? Warum sich nicht gewehrt, als Nathaira ihr den Sgian dhu ins Herz stieß? Und warum hatte sie dennoch einen Fluch über sie gesprochen?
Schluchzend lag sie an der kalten Brust ihrer Mutter und weinte wie das Mädchen, das sie gewesen war, als der Hass ihrer Stiefmutter und die Grausamkeit ihres Vaters jeden ihrer Tage für sie zur Hölle gemacht hatten.
Nach einer Weile wischte Nathaira ihre Tränen fort. Sie fühlte wie der Fluch an Kraft gewann, wie er seine kalten Klauen nach ihr reckte und ihr den Schmerz nahm. Mit einem Mal atmete sie leichter. Sie holte erneut tief Atem, ließ die weiche Hochlandluft in ihre Lunge strömen und ihre Sinne beleben. Der Nebel stieg aus dem Gras und hüllte sie in eine liebevolle Umarmung.
Als lenkte eine fremde Macht ihre Gedanken, erschein eine Erinnerung vor ihrem geistigen Auge. Sie sah sich selbst – in dem dunkelsten Moment ihres Lebens: „Ein Kind? Wie meinst du das? Du bekommst ein Kind?“
Nathaira wischte sich die Tränen aus den Augen, wollte Alasdair Buchanan ihren Schmerz nicht sehen lassen. Die unverhohlene Freude in seiner Stimme ließ ihre furchtbare Tat noch schwerer wiegen. Leise, um ihn nicht wirklich hören zu lassen, was doch gesagt werden musste, antwortete sie ihm.
„Nein, Alasdair, ich bekomme kein Kind. Du hattest mich verlassen, und ich musste eine Entscheidung treffen. Ich habe mich für meinen Bruder entschieden – und gegen dich und das Kind.“
Alasdair packte sie an den Schultern, die er eben noch so zart gestreichelt hatte, und schüttelte sie erbarmungslos.
„Was redest du da? Ich habe dich nie verlassen! Ich folgte dem Befehl deines Bruders! Und nun sagst du mir, was du getan hast, Weib, oder ich schwöre bei Gott, ich vergesse mich!“
Nathaira hatte keine Schwierigkeiten, den Zorn seiner Ahnen, den mordenden und brandschatzenden Wikinger, in Alasdair wiederzufinden. Sie fürchtete ihn. Und zugleich liebte sie ihn so schmerzlich, dass sie sich selbst verachtete für das, was sie ihm antat.
„Lass mich los! Nimm deine schmutzigen Hände von mir! Ich habe getan, was nötig ist, um nicht den Bastard eines Niemands in die Welt zu setzen! Du hast dir zu viel eingebildet, Wikinger, als du dachtest, ein Platz in meinem Bett wäre gleichbedeutend mit einem Platz in meinem Herzen. Meine Liebe und Treue gehört nur einem Mann – meinem Bruder.“
Von Zorn und Schmerz überwältigt, packte Alasdair Nathaira an der Kehle, drückte zu, wollte kein weiteres ihrer boshaften Worte mehr hören. Sie zerstörte seine Zukunft und riss ihm das Herz aus der Brust.
Er drückte fester, genoss ihren Widerstand, genoss ihren Schmerz.
Sie hatte es nicht anders verdient. Ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, die Arme schon schlaff an ihrer Seite, war sie ihm nie schöner erschienen. Er senkte den Kopf zu einem letzten Kuss, ehe er seinen Griff um ihre Kehle löste und an ihre tränennasse Wange murmelte:
„Ich hoffe, dein Bruder verstößt dich, wenn sein Bündnispartner in der Hochzeitsnacht bemerkt, dass seine schöne Braut bereits in den Armen eines Anderen gelegen hat.“
Dann stieß er sie gegen die Mauer, wo Nathaira keuchend zusammensackte.
Sie fasste sich an den Hals, spuckte und hustete, sog schmerzhaft die lebensrettende Luft in ihre brennende Lunge. Hass wallte in ihrem Blick auf, und über ihnen am Himmel zuckte ein greller Blitz. Sie forderte ihr Schicksal heraus. Sollte er sie doch töten, mit seinem Kind war auch sie
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