Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
Zeit gewesen; später – den Spätabend meines Lebens ausgenommen – hatt ich immer nur vereinzelte glückliche Stunden. Damals aber, als ich in Haus und Hof umherspielte und draußen meine Schlachten schlug, da mals war ich unschuldigen Herzens und geweckten Geistes gewesen, voll Anlauf und Aufschwung, ein richtiger Junge, guter Leute Kind. Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach, in allen möglichen Gestalten, oft auch durch eigene Schuld.
Am dritten Tage unserer Fahrt trafen wir in Ruppin ein und nahmen, eh ich in der Pension untergebracht wurde, in einem Hause Quartier, das unserer früheren Apotheke gegenüber lag. »Da bist du geboren«, sagte meine Mutter und wies hinüber nach dem hübschen Hause mit dem Löwen über der Eingangstür. Und dabei traten ihr Tränen ins Auge. Sie mochte denken, daß alles anders hätte verlaufen müssen, wenn »das und das« anders gewesen wäre. Und dies »das und das« war – er . Sie war nicht gern von dieser Stelle weggegangen und ist als eine Frau von über funfzig, äußerlich getrennt von ihrem Manne, dahin zurückgekehrt, um dort, wo sie jung und eine kurze Zeit lang auch glücklich gewesen war, zu sterben.
Der Tag nach unserer Ankunft war ein heller Sonnentag, mehr März als April. Wir gingen im Laufe des Vormittags nach dem großen Gymnasialgebäude, das die Inschrift trägt: Civibus aevi futuri. Ein solcher civis sollte ich nun auch werden, und vor dem Gymnasium angekommen, stiegen wir die etwas ausgelaufene Treppe hinauf, die zum »alten Thormeyer« führte. Er war vordem Direktor in Stendal gewesen und hatte das Direktorat dort aufgeben müssen, weil er sich an einem Lehrer »vergriffen« hatte. Glücklicherweise wußt ich damals noch nichts davon, ich hätte mich sonst halbtot geängstigt. Oben angekommen, trat uns ein mindestens sechs Fuß hoher alter Herr entgegen, gedunsen und rot bis in die Stirn hinauf, die Augen blau unterlaufen, das Bild eines Apoplektikus – er hätte auf der Stelle vom Schlag gerührt werden können.
»Nun, mi fili, laß uns sehn … Ich bitte, daß Sie Platz nehmen, meine verehrte Frau.« Und dabei nahm er einen schmuddligen kleinen Band von seinem mit Tabaksresten überschütteten Arbeitstisch und sagte: »Nun lies dies und übersetze.« Es waren zehn Zeilen mit einem Rotstift links angestrichen, höchstwahrscheinlich die leichteste Stelle im ganzen Buch. Ich tat ganz, wie er geheißen, und es ging auch wie Wasser. »Sehr brav … er ist reif für die Quarta.« Damit waren wir entlassen, und am nächsten Montag, wo die Schule wieder anfing, setzte ich mich auf die Quartabank.
Was ich dahin mitbrachte, war etwa das Folgende: Lesen, Schreiben, Rechnen; biblische Geschichte, römische und deutsche Kaiser; Entdeckung von Amerika, Cortez, Pizarro; Napoleon und seine Marschälle; die Schlacht bei Navarino, Bombardement von Algier, Grochow und Ostrolenka; Pfeffels Tabakspfeife, »Nachts um die zwölfte Stunde«, Holteis Mantellied und beinah sämtliche Schillersche Balladen. Das war, einschließlich einiger lateinischer Brocken, so ziemlich alles, und im Grunde bin ich nicht recht darüber hinausgekommen. Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte Wort vom »Stückwerk« traf auf Lebenszeit buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu.
MEIN ERSTLIN G
Das Schlachtfeld von Groß-Beeren
Es ist schwer, die erste Liebe festzustellen; hat man sie oder glaubt man sie zu haben, so findet sich in der Regel, daß es noch eine allererste gab. Ein verstorbener Freund von mir war denn auch wirklich bei dieser retrospektiven Untersuchung bis an sein viertes Lebensjahr zurückgeraten.
Mit der ersten literarischen Arbeit verhält es sich ähnlich. Wenn man eben seinen Erstgebornen in einem auf liniiertem Papier geschriebenen Geburtstagskarmen entdeckt zu haben glaubt, ergibt sich plötzlich, daß man schon anderthalb Jahre vorher zu einer Wilhelm-Tell-Puppentheatervorstellung einen Prolog gedichtet hat, drin, unter mehr oder weniger deutlilichen Anspielungen auf Klassenlehrer, Tyrannenmord als einziges Rettungsmittel gepredigt wird. Wirklich, es ist schwer, seinem ersten literarischen Sündenfall ein präzises Datum zu geben. Ich laß es aber darauf ankommen und bemächtige mich ohne weitres eines Sonnabendnachmittags, an dem ich, als Untertertianer, eine Fußpartie nach dem mir durch Familienbeziehungen bekannten und befreundeten Dorfe Löwenbruch hin
Weitere Kostenlose Bücher