Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
Beträchtliches besser lesen konnte als der alte Jeserich Kubalke, zumal wenn er seine Hornbrille vergessen hatte.
In dieser Not half die gute Frau von Vitzewitz. Sie hatte längst daran gedacht, das sonderbare Kind, von dessen phantastischem Wesen sie so manches gehört hatte, als Spiel- und Schulgenossin Renatens in ihr Haus zu ziehen, allerhand Erwägungen aber, die dagegen sprachen, hatten es damals nicht dazu kommen lassen. Der Kniehasesche Pflegling, so gewinnend er sein mochte, war doch immer eines Taschenspielers, im günstigsten Falle eines verarmten Schauspielers Kind, und so wenig sie persönlich einen Anstoß daran nahm, so glaubte sie dennoch in Erziehungsfragen weniger ihr eigenes, durchaus freies und vornehmes Empfinden als vielmehr allgemeine, aus Pflicht und Erfahrung hergeleitete Anschauungen zu Rate ziehen zu müssen. So zerschlug es sich denn wieder. Pastor Seidentopf hätte es freilich wohl schon damals in der Hand gehabt, einen andern Ausgang herbeizuführen; er wollte jedoch, in einer so verantwortungsvollen Angelegenheit, nicht ungefragt eingreifen und zog es vor, sich die Dinge selber machen zu lassen.
Und sie machten sich auch, und zwar in sehr eigentümlicher Weise. Am Rande des Vitzewitzschen Parks, schon in einiger Erhöhung, stand eine Florastatue und sah einen breiten Kiesweg hinunter auf die Gartenfront des Herrenhauses. Zu Füßen der Statue waren fünf dreieckige Blumenbeete angelegt, die in ihrer Gesamtheit einen umfassenden Halbkreis bildeten. An dieser Stelle hatte Marie bei ihren täglichen Streifereien häufig ein paar Blumen gepflückt, Balsaminen oder Reseda, und war dabei niemals einem Verbot begegnet. Im Gegenteil. Der Gärtner, des zierlichen und fremdartigen Kindes sich freuend, hatte ihr zugenickt und einmal sogar ihr ein paar Fuchsiaknospen über das linke Ohr gehängt. Nun war es September geworden; die roten Verbenen blühten, und dazwischen, aus eingegrabenen Töpfen, wuchsen ein paar unscheinbare Blumen auf, die dem spielenden Kinde als dunkle Vergißmeinnicht erschienen. Sie pflückte sie ab. Es war aber Heliotrop, damals noch etwas Seltenes, und Frau von Vitzewitz wollte wissen, wer ihr das angetan und sie um den Anblick ihrer Lieblingsblume gebracht habe. Als Marie davon hörte, faßte sie rasch einen Entschluß. Sie setzte sich auf eine Bank, in unmittelbarer Nähe der Statue, und als Frau von Vitzewitz auf ihrem Spaziergang den breiten Kiesweg hinaufschritt, sprang sie auf, eilte der Herankommenden entgegen, küßte ihr die Hand und sagte: »Ich habe es getan.« Sie war dabei hochrot und zitterte, aber sie weinte nicht. Von diesem Augenblick an war die Freundschaft geschlossen. Frau von Vitzewitz streichelte ihr das Haar und sah sie fest und freundlich an; dann führte sie sie zu der Bank zurück, von der sie aufgestanden war, stellte Fragen und ließ sich erzählen. Alles bestätigte ihr den ersten Eindruck. So trennten sie sich. Noch am selben Nachmittage aber sagte Frau von Vitzewitz zu Seidentopf: »Das ist ein seltenes Kind«, und ehe acht Tage um waren, war sie die Spiel- und Schulgenossin Renatens.
Sie war anfangs zurück; alles, was sie konnte, war eben Lesen und Deklamieren. Aber ihre schnelle Fassungsgabe, durch Gedächtnis und glühenden Eifer unterstützt, gestattete ihr, das Versäumte wie im Fluge nachzuholen, und ehe noch ein halbes Jahr um war, war sie in den meisten Disziplinen Renaten gleich. Und wie sie den von Frau von Vitzewitz an ihre Fähigkeiten geknüpften Erwartungen entsprach, so auch denen, die sich auf ihren Charakter bezogen. Sie war ohne Laune und Eigensinn; etwas Heftiges, das sie hatte, wich jedem freundlichen Wort. Die beiden Mädchen liebten sich wie Schwestern.
Nichts war mißglückt, über Erwarten hinaus hatten sich die Wünsche der Frau von Vitzewitz erfüllt, dennoch stellten sich immer wieder Bedenken bei ihr ein, die freilich jetzt nicht mehr das Glück Renatens, sondern umgekehrt das Glück Mariens betrafen. Es galt nicht nur den Augenblick, sondern auch die Zukunft befragen. Wie sollte sich diese gestalten? War es recht, dem Schulzenkinde die Erziehung eines adeligen Hauses zu geben? Wurde Marie nicht in einen Widerspruch gestellt, an dem ihr Leben scheitern konnte? Sie teilte diese Bedenken ihrem Gatten mit, der, von Anfang an dieselben Skrupel hegend, sofort entschlossen war, mit Schulze Kniehase, zu dessen Verständigkeit er ein hohes Vertrauen hatte, die Sache durchzusprechen.
Berndt ging in den Schulzenhof,
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