Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
augenblicklich um alles in der Welt sich der Anekdote selbst nicht mehr erinnern, ungeachtet er sie seit den letzten zehn Jahren schon sehr häufig mit dem größten Beifall erzählt hatte.
»Weiß Gott«, sagte der Geck in den Tuchstiefeln, »es ist eine höchst merkwürdige Geschichte.«
»Es tut mir sehr leid, daß Sie sie vergessen haben«, versetzte Herr Bob Sawyer, gierige Blicke nach der Tür werfend, da er jeden Augenblick Gläsergeklingel zu hören meinte.
»Mir tut es auch sehr leid«, antwortete der Geck, »denn ich bin gewiß, daß sich die ganze Gesellschaft sehr daran ergötzt haben würde. Doch, gleichviel: in einer halben Stunde ungefähr wird sie mir schon wieder einfallen.«
Endlich erschienen die Gläser wieder, worauf Herr Bob Sawyer, der die ganze Zeit über in tiefen Gedanken dagesessen hatte, sich unwiderstehlich bemüßigt fühlte, das Ende der Geschichte zu hören, denn so weit sie gediehen sei, gehöre sie zu den schönsten, die ihm bis jetzt zu Ohren gekommen.
Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder zu einer Gemütsruhe, wie er sie seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz gesellig zu Mut.
»Jetzt, Betsy«, sagte Herr Bob Sawyer sehr freundlich, indem er den ungeordneten Haufen Gläser austeilte, den das Mädchen
mitten auf den Tisch gestellt hatte; »jetzt, Betsy, bring’ das warme Wasser, und eil dich ein bißchen, liebes Kind.«
»Sie können kein warm’ Wasser haben«, erwiderte Betsy.
»Kein warmes Wasser?« rief Herr Bob Sawyer.
»Nein«, sagte das Mädchen mit sehr nachdrücklichem Kopfschütteln, nachdrücklicher als der größte Aufwand von Worten. »Frau Raddle hat gesagt, ich dürfe Ihnen keins bringen.«
Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste malte, flößte dem Wirt neuen Mut ein.
»Bring’ sofort das warme Wasser – sofort!« gebot Herr Bob Sawyer mit verzweifelter Strenge.
»Nein, ich kann nicht«, erwiderte das Mädchen; »Frau Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, ehe sie zu Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.«
»Macht nichts, macht nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit«, sagte Herr Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Bedrängnisse wohl bemerkte; »kaltes Wasser ist auch sehr gut.«
»O freilich«, fügte Herr Benjamin Allen hinzu.
»Meine Wirtin hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit«, bemerkte Bob Sawyer mit einem seltsamen Lächeln. »Ich fürchte, ich muß ihr kündigen.«
»Ach nein, tun Sie das nicht«, sagte Ben Allen.
»Ich werde wohl müssen«, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. »Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen kündigen.«
Der arme Bursche – wie sehnlich wünschte er, es tun zu können.
Herrn Bob Sawyers herzzerreißende Bemühungen, sich von diesem letzten Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein und Wasser recht fleißig zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung einige Zeit lang durch trotziges Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig hielt, sich deutlicher zu erklären, und es zu folgender unzweideutiger Auseinandersetzung kam:
»Sawyer«, jagte der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.
»Was gibts, Noddy?« fragte Bob Sawyer.
»Es tut mir sehr leid, Sawyer«, sagte Herr Noddy, »am Tisch eines Freundes, und besonders an dem Ihren, Sawyer, eine Störung zu veranlassen; allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Herrn Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.«
»Und mir«, erwiderte Herr Gunter, »mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in Ihrer Behausung eine Störung zu veranlassen. Aber ich fürchte, ich werde notwendigerweise die Nachbarschaft
dadurch beunruhigen müssen, daß ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.«
»Was meinen Sie damit, Sir?« fragte Herr Noddy.
»Nichts anderes, als was ich gesagt habe«, erwiderte Herr Gunter.
»Dann möchte ich doch sehen, wie Sie das machen, Sir«, sagte Herr Noddy.
»Sie werden es in
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