Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
auszulegen, oder ohne das Herz, die Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft sind, als der gemeine Verbrecher: denn sie üben notwendig auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft aus, setzen alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herab, machen es verächtlich und bringen ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler wertvollen Sekten und Glaubenspartien in üblen Ruf. Aber da Herr Stiggins sich eine geraume Zeitlang an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hatte, während er mit dem andern fortwährend blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er an all das dachte, aber es weislich bei sich behielt.
Während dieser Predigt seufzte und weinte Frau Weller am Schlüsse der Abschnitte, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf der Seitenlehne seines Stuhles ruhenden Armen den Sprecher mit einem süßen, milden Lächeln betrachtete, und gelegentlich einen Blick des Verständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.
»Bravo! ganz vortrefflich!« rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach dem Schlüsse der Rede seine abgetragenen Handschuhe anzog und, während dieses Geschäft«, die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden – »ganz vortrefflich.«
»Ich hoffe, es wird bei Ihnen anschlagen, Samuel«, sagte Frau Weller feierlich.
»Ich denke auch, Stiefmutter«, versetzte Sam.
»Ich wollte, es schlüge auch bei Ihrem Vater an«, sagte Frau Weller.
»Danke dir, meine Teure«, erwiderte Herr Weller senior . »Welchen Eindruck macht es denn auf dich selbst, meine Liebe?«
»Spötter!« rief Frau Weller.
»Unerleuchteter Mann!« sagte der ehrwürdige Herr Stiggins.
»Wenn ich kein besseres Licht bekomme, als Ihren Mondschein, mein würdiges Goldkind«, versetzte der ältere Herr Weller, »so ist es sehr wahrscheinlich, daß ich ewig eine Nachtkutsche fahren werde, bis ich ganz von der Lebensstraße Abschied nehme. Jetzt aber, Frau Weller, wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, so hält er mir auf dem Heimweg nicht mehr Stand und wirft vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in diese oder jene Hecke.«
Auf diese Bemerkung nahm Herr Stiggins in augenscheinlicher Bestürzung Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise, womit Frau Weller ebenfalls zufrieden war. Sam ging mit ihnen bis ans Gefängnistor, wo er einen zärtlichen Abschied von seinen Gästen nahm.
»Adio, Samuel«, sagte der alte Herr.
»Was heißt das, Adio?« fragte Sam.
»Nun denn: so lebe wohl«, sagte der alte Herr,
»Weiter habt Ihr nichts gewußt?« fragte Sam. »Nun, so lebt wohl, alter Racker.«
»Sammy«, flüsterte Herr Weller, vorsichtig um sich blickend, »meine Empfehlung an deinen Prinzipal, und wenn er sich einmal eines Besseren besinne, so solle er es nur mich wissen lassen. Ich und der Kunsttischler haben miteinander einen Plan ausgeheckt, ihn herauszukriegen. Ein Piano, Samuel – ein Piano!« fügte Herr Weller hinzu, indem er seinen Sohn mit der Rückseite seiner Hand auf den Brustkasten schlug und ein paar Schritte zurücktrat.
»Was meint Ihr damit?« fragte Sam.
»Ein Pianoforte, Samuel«, erwiderte Herr Weller noch geheimnisvoller; »er kann es mieten: so eins, wo man nicht darauf spielt, Sammy.«
»Und wozu soll das gut sein?« meinte Sam.
»Er soll zu meinem Freund, dem Kunsttischler schicken, und es holen lassen«, erklärte Herr Weiler. »Verstehst du mich jetzt?«
»Nein«, versicherte Sam.
»Es ist gar nichts dabei zu riskieren«, flüsterte sein Vater. »Er kann sich mit seinem Hut und seinen Schuhen hineinlegen, und durch das Gestell, das hohl ist, frische Luft schöpfen. Wir halten ein Schiff nach Amerika für ihn bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihn nicht heraus, sobald sie sieht, daß er Geld zu verzehren hat, Sammy. Dort kann dein Prinzipal bleiben, bis Frau Bardell tot ist, oder die Herren Dodson und Fogg am Galgen hängen, welches letztere wahrscheinlich zuerst geschehen wird, Sammy. Dann soll er zurückkommen und ein Buch über die Amerikaner schreiben, das ihm alle seine Reisekosten und noch mehr einträgt, wenn er ihnen nur tüchtig heimleuchtet.«
Herr Weller flüsterte diesen kurzen Abriß von seinem Komplott dem Sohne erregt ins Ohr; dann aber gab er, als fürchte er, durch ein weiteres Gespräch die Wirkung seiner unerhörten Mitteilung zu schwächen,
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