Dem Leben Sinn geben
nationalsozialistische Experiment der »Lebensborn«-Heime, aber die meisten stimmen mangels Alternativen zu. An Wochenenden strömen von überallher Neugierige herbei, bestaunen die exotische familiäre Lebensform und kontrollieren ganz nebenbei, was mit ihren Steuergeldern geschieht, denn die Familienarbeit wird sehr gut bezahlt. Erst nach einem umfangreichen Studium verschiedenster Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften kann das Familiendiplom erworben werden, das eine echte Chance auf dem Familienmarkt eröffnet. Die Fortpflanzungsraten werden in einem Zielkorridor gehalten, den die Gesellschaft für wünschenswert hält; wer nicht kooperiert, riskiert die fristlose Kündigung.
Einstweilen können aber noch andere Versuche unternommen werden, sich in der Herstellung und Pflege eines familiären Geflechts von Beziehungen zu üben. Die Familienlebenskunst beruht auf der individuellen Sorge für eine soziale Integrität, die den Beteiligten Lebenssinn vermittelt. Eine gute Grundlage dafür ist die Arbeit an der Integrität des eigenen Selbst und seiner Sinngebung. Dass ein Ich mit sich umgehen kann, ist die Voraussetzung dafür, umgänglicher für Andere zu werden, sich ihnen zu öffnen und sie »ins Herz zu schließen«. Die Fragen, die der Einzelne sich selbst stellt, um seinen Kern zu definieren und seinen inneren Zusammenhalt zu festigen, sind auch für den gemeinsamen Kern leitend: Was sind unsere wichtigsten gemeinsamen Beziehungen, Erfahrungen, Ideen, Werte, Gewohnheiten, Ängste, Schönheiten? Ist der gemeinsame Kern definiert, kann sich eine Peripherie darum herum bilden, in der vieles fluktuieren kann: Beziehungen zu guten Freunden, Bekannten, Kollegen und Verwandten, weniger bedeutsame Erfahrungen und häufiger wechselnde Meinungen und Moden. Zwischen festem Kern und fließender Peripherie atmen zu können, wird den Erfordernissen des Lebens besser gerecht als das strikte Beharren auf dem Kern oder das Zerfließen einer Gemeinsamkeit ohne jeden Kern. Ein reiches Maß an peripheren Begegnungen und Erfahrungen reduziert die Gefahr innerer Verarmung in der Enge eines gemeinsam gelebten Alltags und gewährt mehr Freiheit.
Es liegt am Einzelnen selbst, mit der Art seiner Selbstdefinition eine Antwort auf das zentrale Problem familiärer Beziehungen unter modernen Bedingungen zu geben: Wie lassen sich Freiheit und Bindung miteinander vereinbaren? Alle Arten von Familie kennen die Spannung zwischen den Ichs , die größten Wert auf ihr freies, ungebundenes Leben legen, und der Gemeinschaft , deren Erfordernisse den individuellen Spielraum zwangsläufig begrenzen. Phasenweise kann der Schwerpunkt verschoben werden, um manchmal dem Ich den Vorzug zu geben, dann wieder zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen, was das Ich will. Denn wenn jeder immer macht, was er will, gibt es bald nichts Gemeinsames mehr; nicht einmal mehr das scheinbar harmlose Vorhaben eines Sonntagsausflugs lässt sich dann noch realisieren.
Die Spannung zwischen Freiheit und Bindung ist nicht aufzuheben, nur abzumildern, nämlich durch eine Mäßigung der S elbstverwirklichung , die über die negative Freiheit der Befreiung von äußeren Festlegungen nicht hinauskommt. Mäßigend wirkt die Selbstmächtigkeit , mit der sich das Selbst um eine positive Freiheit bemüht, Festlegungen trifft, Bindungen eingeht und sie bewahrt, wo immer es möglich ist. Jeder kann auf diese Weise der Freiheit Formen geben und aus Freiheit seine Freiheit wieder etwas eingrenzen, eine Freiheit zweiten Grades , ein nonkonformistischer Akt in der Zeit, in der das ewige Spiel der Befreiung konformistisch geworden ist. Auf dieser Grundlage kann den Details der Freiheit mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden: Welche Freiheiten sind mir wichtig, wo bin ich zu einem Verzicht bereit? Welche Freiheiten kann ich dem Anderen zugestehen, wo bitte ich ihn um einen Verzicht?
Sich im Hin und Her zwischen Freiheit und Bindung aber nicht entscheiden zu können, führt zur Erfahrung der Zerrissenheit , die moderne Menschen beklagen: In der Bindung leiden sie an Einschränkungen der Freiheit, aus denen das Bedürfnis hervorgeht, davon wieder frei sein zu wollen. Im Zustand des Befreitseins kommen sie dann oft zur Auffassung, dass sie mit sich allein auch nicht recht glücklich sind und sehnen sich erneut nach Bindung.
Die Entscheidung für oder gegen eine familiäre Bindung betrifft das ganze Leben und will wohlüberlegt sein: Warum überhaupt noch Familie , in welcher Form auch
Weitere Kostenlose Bücher