Dem Leben Sinn geben
nur mit Freuden und Lüsten, sondern auch mit Ängsten und Schmerzen, nicht nur mit Erfolg, sondern auch mit Misserfolg zurechtkommt. Wechselseitig verschaffen alle sich Erfahrungen, agieren und reagieren, streiten und versöhnen sich. Hier ist Menschenkenntnis zu erwerben und sind Umgangsformen wie Höflichkeit und Rücksichtnahme einzuüben, auch aufgrund einer Sanktionierung bei ihrer Missachtung. Hier entwickelt sich die Fähigkeit, Verantwortung für sich und Andere wahrzunehmen, Kompromisse einzugehen und Verabredungen einzuhalten. Mit dem umfassenden sozialen Wissen, das hier zu gewinnen ist, kommt »Sozialisierung« zustande, eine Befähigung zur Gesellschaft, die in moderner Zeit umso mehr zum Begriff geworden ist, je weniger sie sich von selbst verstand. Die kleine Zelle der Familie vermittelt einen Eindruck davon, wie schwierig es ist, Gemeinschaft zu organisieren, Fragen zu beantworten, Probleme zu lösen, Streit zu schlichten und Dinge zu verändern: Wie könnte das in größeren Gemeinschaften anders sein?
Forciert wird das Lebenlernen in der Familie durch Kinder, wenn die Erwachsenen sich darauf einlassen, mit ihnen von Neuem heranzuwachsen und das Leben und die Welt mit ihrer Entdeckungsfreude anders zu sehen. Mit ihnen ist zu lernen, wie sehr das Leben an Phasen gebunden ist, die aufeinanderfolgen. Stressresistenz wird in diesem Leben ganz nebenbei erworben, da Kinder immer wieder unvorhergesehene Situationen entstehen lassen, die nach schöpferischen Antworten verlangen; sie selbst erweisen sich dabei als sehr findig. Sich im alltäglichen Durcheinander einer Familie mit Kindern bewegen zu lernen, setzt enorme Lebenskräfte frei, wenn sie nicht durch die innere Ablehnung dieser Lebensform gelähmt werden.
Familie kann ein Ort des Glücks sein , zuallererst des Zufallsglücks, das einfach darin besteht, zusammengewürfelt worden zu sein; nicht selten auch des Wohlfühlglücks: Sich miteinander wohlzufühlen, ist die Basis des Zusammenlebens. Und doch kann das Glück nicht nur aus guten Gefühlen bestehen, geradezu weltfremd sind die weltlichen Heilsvorstellungen mit Erwartungen an ein maximal lustvolles und schmerzfreies Leben, die in moderner Zeit in das Glück projiziert werden. »Ohne eine Kritik des Glücks ist der Familie nicht zu helfen« (Iris Radisch, Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden , 2007, 80). Wider bessere Einsicht einen euphorischen Anspruch auf ungetrübtes Glück vor sich herzutragen, zwingt nur dazu, den Umgang mit Anderen immer knapper befristen zu müssen, um zu verhindern, von den ärgerlichen und schmerzlichen Seiten des gemeinsamen Lebens eingeholt zu werden. In einer Familie aber kollidieren die Interessen – schon aus diesem Grund bleibt das gemeinsame Leben nicht frei von Ärger. Je ausgeprägter die Ichs, desto entschiedener beharren sie auf ihren Vorlieben, und wenn die Vorlieben Anderer dabei zu kurz kommen, liegt die knappe Auskunft auf den Lippen: »Nicht mein Problem!« Da dies dem Wohlgefühl Anderer selten förderlich ist, bleibt aufgrund ihrer Reaktionen auch das ignorante Ich nicht völlig schmerzfrei.
Die Illusion des ungetrübten Glücks erfordert Wegsehen und Weggehen und eine immer neue Suche nach anderen, lustvolleren Möglichkeiten – mit der Gefahr, dass das Glück auf diesem Weg zum Stress wird. Das anhaltende Leben mit Anderen erfordert hingegen Hinsehen und Dableiben , in manchen Situationen sogar die Tapferkeit, zugunsten einer bestehenden Wirklichkeit auf andere Möglichkeiten zu verzichten, um sich nicht zum Sklaven eines Glücks zu machen, das stets anderswo zu finden ist. Dann erst wird ein Glück der Fülle mit Anderen möglich, das Gegensätze und Widersprüche nicht ausschließen muss. Selbst das Unglücklichsein, ein »negativer« Zustand, den in der Welt des Positiven kaum jemand akzeptieren will, hat im Rahmen dieser Fülle Platz.
Familie kann schließlich ein Ort der Sinnerfahrung sein . Das Zusammenleben kann mühsam sein, aber die Mühe wird reich entlohnt: Menschen, die in verlässlichen Bindungen leben, werden deutlich weniger von der Frage nach dem Sinn des Lebens umgetrieben. Das Leben in Familie ist der Sinn, keineswegs der einzig mögliche, aber ein einzigartig fest gefügter, erfahrbar in der sinnlichen Begegnung, im Austausch von Gefühlen und Gedanken und in der transzendenten Erfahrung eines Seins über das eigene Dasein hinaus. Jeder kann sich in Zusammenhänge eingegliedert fühlen, die synchron in den
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