Dem Leben Sinn geben
gegenwärtigen Beziehungen, darüber hinaus aber diachron durch die Zeiten hindurch wahrnehmbar werden, wenn die Familie die Erinnerung an frühere Mitglieder bewahrt und die eigene Geschichte kennt, möglichst auch die verborgene, sowie mögliche künftige Mitglieder vorweg mitbedenkt.
Im Moment in einem Geflecht zu leben und sich als Teil einer langen Kette von Generationen zu verstehen, somit ein Sein über die eigene Zeit hinaus zu erfahren, ist keineswegs dasPrivileg von Adelsfamilien, sondern eine Möglichkeit, die jede Familie realisieren kann. Selbst diejenigen, die keine eigenen Kinder haben, können sich bewusst als Teil des Umfelds heranwachsender Generationen verstehen, als Teil des »Dorfes«, das bekanntlich für die Erziehung von Kindern erforderlich ist, auch in moderner und andersmoderner Zeit. Je reicher ein Beziehungsnetz, desto vielfältiger die Zusammenhänge, die ganze Sinnfelder erzeugen und Halt geben können. In der Vertrautheit und Geborgenheit, die die Menschen dabei empfinden, ist der freie Austausch von Energien möglich; es entsteht die menschliche Wärme, die das Leben intensiv spürbar macht und in der Menschen sich am besten entfalten können.
Anders als in vormoderner Zeit sind Kinder jedoch nicht mehr automatisch Bestandteil der Familie, die Frage nach ihnen bedarf einer eigenen Antwort: Sollen zur Familie auch Kinder gehören? Einst hatten Paare dem gottgewollten Zweck der Zeugung Genüge zu tun, die Natur trieb sie sowieso dazu an, und Religion, Tradition und Konvention setzten alles daran, die Erfüllung dieses Zwecks in die Institution der Ehe einzubinden. Vom Zeugungszweck befreit zu sein, ist eine Errungenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, seit der Kinderzwang hormonell unterlaufen werden kann. Der Preis der Freiheit ist jedoch, wie in allen Lebensbereichen, der Zwang zu einer Wahl, die entweder vorsätzlich, aktiv getroffen werden kann, oder aber passiv , um ohne weiteres Zutun einfach geschehen zu lassen, was geschieht. Im Vorfeld der Wahl können Gründe abgewogen werden, wenngleich Kinder damit unweigerlich zum Gegenstand eines Kalküls werden: Was spricht für, was gegen sie?
Gegen Kinder spricht aus der Sicht vieler, dass sie Arbeit machen, Pläne durchkreuzen, das persönliche Wohlfühlglück stören, einer problematisch erscheinenden Welt ausgesetzt werden müssen und krank zur Welt kommen können. Gescheut wird die Festlegung, die mit Kindern zwangsläufig einhergeht und spürbare Einschränkungen von Freiheit und Beweglichkeit mit sich bringt, privat wie beruflich. Dass Kinder die Lebenskraft von Eltern stark in Anspruch nehmen, trifft auf die schwindende Bereitschaft vieler zu einem solchen Opfer.
Kinder können auch die Beziehung zwischen zweien belasten, da sie sehr viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, und wenn die Beziehung zerbricht, bleibt vielleicht einer mit der Belastung allein zurück. Überdies kosten Kinder Geld: Je moderner die Gesellschaft, desto penibler die Berechnung der materiellen Kosten – aus romantischer Sicht ein klares Indiz für den Verfall der Liebe, denn wer liebt, rechnet nicht, wer aber rechnet, der liebt nicht. Wer auf ein Kind verzichtet, kann materielle Werte in Größenordnung eines Eigenheims gewinnen – dass der Preis dafür ist, eine Liebe fürs Leben zu verlieren, wird er nie in Erfahrung bringen. Moderne Menschen müssen ferner einer Erwerbsarbeit nachgehen, um zu leben und ihre eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen; selbst in der Freizeit sind sie mit Sport, Reisen und Hobbys gut ausgelastet: »Wozu Kinder, wenn man dann keine Zeit für sie hat?« Frei von ihnen zu bleiben, wurde zum Motto einer ganzen Bewegung: Childfree means free to be me! Die amerikanische Schauspielerin Cameron Diaz sprach es bei der Präsentation ihres Films Knight and Day (2010) unverblümt aus: »Ich wusste immer, dass ich, wenn ich ein Kind haben würde, all die anderen Dinge nicht haben würde, die ich in meinem Leben haben wollte; also hatte ich kein Kind und bekam alle diese Dinge.«
Niemand soll darüber den Stab brechen, jeder trifft seine eigene Wahl. Allerdings scheinen die Gründe, die für Kinder sprechen, im Laufe der Moderne zusehends ins Hintertreffen zu geraten: Es sind zuallererst Gründe der Notwendigkeit , denn wenn es weiterhin Gesellschaft geben soll, ist sie auf den Nachwuchs angewiesen, der den Älteren das Leben ermöglicht, das die Jüngeren selbst werden führen wollen, wenn sie ihrerseits älter
Weitere Kostenlose Bücher