Dem Leben Sinn geben
leben, die ihm zur Verfügung stehen. Er hat kein Problem damit, kein großer Geist zu sein, des Öfteren begeistert es ihngeradezu. Er hält es für erstrebenswert, zum Lebensphilosophen zu werden, und er widmet sich diesem »philosophischen Privatprojekt«. Die menschlichen Angelegenheiten sind vertrackt, und in seinen Augen ist es »gut, sich da rauszuhalten«. Kompliziert werden sie meist durch die Liebe und ihre Folgen. Die Liebe verleiht Flügel, stürzt Menschen jedoch auch in ungeahnte Abgründe. Alle wollen geliebt werden und glücklich sein, aber nicht alle wollen etwas dafür tun. Vielen Menschen, sowohl Männern als auch Frauen, geht es im Leben nur um »das Eine«, und wenn sie es finden, ist die Beziehung oft keine offizielle, was wiederum die Frage, »wer mit wem«, zum Gesprächsthema schlechthin macht. Isidor beobachtet das Entstehen der Liebe zwischen zweien, ihr Aufblühen, aber auch ihr Dahinwelken. Er kennt ihr Erscheinungsbild in den Familien, ihre liebevolle Pflege, aber auch ihr Aussetzen und ihren Umschlag ins Gegenteil zwischen Eltern, Kindern, Geschwistern und Großeltern: »Um Gottes willen, was tun die Menschen einander an?«
Dass Isidor selbst wenig Probleme mit der Ehelosigkeit hat, die seine Kirche ihm abverlangt, liegt daran, dass er sie als Schutz empfindet: Sie bewahrt ihn davor, den Hitzewallungen verschiedenster Art, die er an Anderen wahrnimmt, zu sehr ausgeliefert zu sein. Nicht dass er nicht auch selbst Anfechtungen erleben würde; er könnte sich zum Beispiel vorstellen, eine Frau in seine Arme zu schließen, »falls sie stolpert auf einem glitschigen Weg«. Aber die gelegentlichen »Erwärmungen«, die er an sich selbst bemerkt, behandelt er ähnlich wie Erkältungen: Einfach abwarten, bis sie von selbst vorbeigehen. Diejenigen unter seinen Kollegen, die ein stets bedrohtes Doppelleben führen oder um der Liebe willen ihren Beruf aufgeben, bedauert er aufrichtig. Weit mehr zu schaffenmacht ihm die »Sehnsucht nach Vertrauen«, nach Vertrautheit mit einem Menschen, unabhängig von erotischer Intimität: Er würde gerne jemanden kennen, dem er alles erzählen könnte und der vielleicht sogar alles verstünde, dem er umgekehrt seinerseits gerne zuhören würde, um die Nähe und Wärme zu empfinden, in der er die eigentliche Erfüllung zwischen Menschen sieht.
Ohne Liebe in irgendeinem Sinne zu leben, hält er für unmöglich: »Die Liebe ist das einzige, was uns rettet« (131). In seinem eigenen Leben hat er eigentlich immer »Liebe gespürt«. Wenn nicht die der Eltern, dann die der Großmutter, und zum Beruf führte ihn die großväterliche Liebe eines alten, weisen Dorfpfarrers, dem er bis zuletzt verbunden bleibt. Er schätzt die freundschaftliche und kollegiale Liebe der anderen Pfarrer, mit denen er sich von Zeit zu Zeit austauscht. Ganz außerordentlich liebt er die alten Rituale und die heimatliche Landschaft, und wenn es ihm mal an Liebe fehlen sollte, bleibt ihm noch die Liebe zu Gott, denn Gott kann immer geliebt werden. Gott ist ein Gegenüber, mit dem Isidor in Gedanken spricht und von dem er sich angesprochen fühlt, jedenfalls stellt er sich das so vor. Ob es sich wirklich um Gottes Wort handelt, wer weiß das schon! Einen Gottesbeweis findet er nicht in irgendwelchen Argumenten, sondern in der Musik, insbesondere in der 8. Sinfonie Anton Bruckners, speziell im Adagio . Über die Schwächen des irdischen Erscheinungsbildes seiner Kirche ist Isidor sich völlig im Klaren, er kennt die Kirchengeschichte und hat Verständnis dafür, dass sie »jeden in helle Aufregung versetzen muss«. Die Widersprüche sind so groß, dass auch er manchmal fast zum Ungläubigen wird, um dann aber erstaunt zu bemerken, »dass etwas in ihm unbeeindruckt weiterglaubte«.
Im Übrigen hat er zur Theologie ein entspanntes Verhältnis: »Er sah es nicht als seine Aufgabe an, die Rätsel Gottes zu lösen, sondern sie wahrzunehmen« (291). Die Liebe zu Gott macht es manchmal erforderlich, »allen möglichen Unsinn« zu vertreten, sich Beleidigungen gefallen zu lassen und die üblichen Theodizee-Vorwürfe anzuhören: Wie kann Gott so etwas zulassen, wo er doch gerecht zu sein hat – statt zu bedenken, dass Gott ja auch Sorge dafür tragen muss, Gutes in der Welt nicht überhandnehmen zu lassen, um gewisse Unterschiede zum Jenseits aufrechtzuerhalten. Isidor ist damit einverstanden, dass die meisten Menschen nicht aus Kirchenfrömmigkeit zum Gottesdienst kommen, sondern »um vorübergehend
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