Dem Leben Sinn geben
Gewissheit durchdrungen zu sein, dass dieses All, für das Gott steht, mir persönlich zugewandt und zugeneigt ist, denn wie sonst sollte ich inmitten zerbrechlicher Bedingungen und unwahrscheinlicher Zufälle, denen die menschliche Existenz ausgesetzt ist, existieren können?
Die so vorgestellte Liebe Gottes könnte eine poetische Beschreibung dessen sein, was in der Prosa der Wirklichkeit tatsächlich geschieht: Unentwegt umflutet zu sein von Energie, sodass es nur darauf ankommt, sich ihr zu öffnen. Von Gott geliebt zu sein, heißt ins Weltliche übersetzt: Menschen können sich getragen fühlen von der Energie, die ihrem Leben zugrundeliegt und nie versiegt, sodass sie ihnen als göttliches Wesen erscheint. Der Mensch, der sich als Geschöpf Gottes versteht, hat Zugang zu dieser unerschöpflichen Quelle, aus der sich seine Lebenskraft und Liebesfähigkeit speist. »In Gott zu leben« heißt dann, verkürzt gesagt: Erfüllt zu sein von dieser Energie, ihr in sich Raum zu geben, ihre Unendlichkeit zu denken und zu fühlen, sie im Reichtum der Sinnlichkeit, in seelischer Weite und geistiger Offenheit zu erfahren. In der vierfachen Liebe zu Gott, zu sich selbst, zu Anderen und zur Welt kommt ein Mensch vollständig zu sich und erfüllt den Sinn seines gesamten Seins.
Die Voraussetzung dafür, geliebt zu werden, ist jedoch die Bereitschaft, selbst zu lieben, hier also sich Gott und allen aus göttlicher Energie heraus existierenden Geschöpfen und Dingen zuzuwenden. Mit der Liebe zu Gott öffnet sich der endliche Mensch für das Unendliche und erschließt sich damit ein unabsehbares Potenzial des Lebens. Auch die Liebe zu Gott bedarf zu ihrer Pflege allerdings einiger Rituale im Alltag. Ein solches Ritual ist beispielsweise das Gebet , im weltlichen Sinne die Meditation ; in jedem Fall geht es um eine Vergegenwärtigung des Unendlichen im Endlichen .
Es ist kein Zufall, dass dabei meist, wie bei einem Kuss und einem Akt der körperlichen Vereinigung, die Augen geschlossen werden: Wenn die sichtbare Wirklichkeit verschwindet, die die gewöhnliche Wahrnehmung beherrscht, scheint vor dem inneren Auge das Reich der Möglichkeiten auf. Und wenn es gelingen sollte, sich dieser anderen Dimension unentwegt bewusst zu sein, wird es möglich, das Leben als »immerwährendes Gebet« zu verstehen. Die anhaltende Pflege der Beziehung führt zur Herstellung einer starken Bindung, einer innigen Beziehung, eines festen Zusammenhangs, und auch dieser Zusammenhang stiftet Sinn , so viel Sinn, dass das gesamte Leben mit all seinen schwierigen und problematischen Seiten mühelos damit gelebt werden kann.
Von welcher Bedeutung das ist, wird deutlich, wenn ein Mensch die Beziehung verliert, auf die er gesetzt hat: Die Sinnlosigkeit , die er empfindet, macht die negativen Seiten des Lebens unerträglich. Kann er aber die Beziehung bewahren, ist die Sinnfülle so groß, dass er dazu imstande ist, alles Mögliche zu tun: Großartiger und zugleich gefährlicher Wesenszug der religiösen Beziehung. Sie befähigt zu jeder Hingabe, auch zu jeder Hinnahme, denn alles, was geschieht, kann durchweg als von Gott kommend akzeptiert werden und ist keiner weiteren Erklärung bedürftig. Aus der Missbrauchbarkeit resultiert die Notwendigkeit, diese Liebe im Maß zu halten und nicht zurblinden Leidenschaft werden zu lassen: Zu oft haben Menschen biographisch und historisch gezeigt, dass sie im Eifer dieser Liebe alle Moral vergessen können. Gerade diejenigen, die die Liebe zu Gott predigen, sind in Gefahr, missliebigen Anderen jedes Lebensrecht abzusprechen. Um nicht im Überschwang unendlicher Energien zur Verachtung der Endlichkeit des eigenen Selbst und Anderer zu neigen, ist eine kritische Ergänzung der religiösen Beziehung sinnvoll, eine immer neue Reflexion und Selbstreflexion im Gespräch mit sich und Anderen, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist.
Dann aber tut sich die Option auf, pathetisch formuliert, ein Leben im Angesicht Gottes zu führen . Das eigene endliche Leben von diesem Unendlichen überwölbt zu sehen, kann heißen, »sein Auge« auf sich ruhen zu fühlen, wohlgefällig oder missbilligend, und daraus Orientierung fürs Leben zu beziehen. In lebenspraktischen wie in moralischen Fragen ist dann zu erspüren, was getan und gelassen werden soll: Welches Verhalten ist richtig und sogar geboten, welches hat über die eigene Endlichkeit hinaus Bestand, welches nicht?
Welche Bedeutung dieser Blick hat, zeigt sich ausgerechnet
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