Dem Winde versprochen
lange sollte man nicht warten. Ich werde ihn tragen. Es ist nicht so weit.«
»Oh, nein«, widersetzte sich Béatrice. »Ihr werdet Schaden nehmen.«
»Ich bin eine starke Frau«, antwortete die Fremde und hob den Jungen mit der Hilfe von Señor Aignasse vom Boden auf.
»Auf, Jimmy«, sagte sie auf Englisch zu dem Kind, das alle für ihren Sohn hielten. Béatrice folgte ihnen.
Señorita Leonilda und Doña Bela zogen es vor, bei Aignasse zu warten, bis die Kutsche kam. Bernabela lag auf dem Sofa, umsorgt von ihrer Schwester, die ihr abwechselnd Luft zufächelte und das Ammoniak unter die Nase hielt.
»Oh, es reicht, Leo!«, beklagte sie sich. »Quäl mich nicht länger mit diesem Zeug, das stinkt nach Schweiß.«
»Wer ist dieses Mädchen?«, fragten die Frauen schließlich, doch das Ehepaar Aignasse zuckte die Achseln.
»Sie hat Englisch mit dem Kleinen gesprochen«, sagte Señora Escalada.
»In was für einer seltsamen Sprache mag sie gesungen haben?«, fragte sich Casimira Marcó del Pont.
Kurz bevor sie das Haus der Valdez e Inclán erreichten, begegnete
ihnen die Kutsche, die sich rasend schnell auf den Weg zum Geschäft machte. Anita, Béatrices Dienerin, die hinterherlief, blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihre Herrin sah.
»Vicente ist schon unterwegs, Señora Béatrice.«
»Ich weiß, Anita. Los, steh nicht herum. Geh und klopf an die Tür, damit Efrén uns aufmacht.«
Efrén nahm den kleinen Víctor auf den Arm und brachte ihn in sein Zimmer, während Béatrice ihrer Dienerin auftrug, Doktor O’Gorman zu holen.
»Ich weiß nicht, warum das heute passieren musste«, sagte Béatrice bekümmert. »Er hatte schon seit einiger Zeit keinen Anfall mehr. Mein armer Víctor!«
»Die Luft in dem Geschäft war sehr schlecht«, sagte das Mädchen.
»Ich weiß nicht, was mit ihm passiert wäre, wenn Ihr nicht da gewesen wärt«, rief Béatrice aus und fasste die Hände der Rothaarigen. »Welche Ruhe Ihr an den Tag gelegt habt! Was für eine Sicherheit! Ich stand einfach nur da wie eine Närrin und habe zugeschaut. Mein armer Kleiner! Danke, danke! Woher wusstet Ihr, was Ihr zu tun hattet?«
»Ich bin daran gewöhnt«, lautete die rätselhafte Antwort.
»Wie heißt Ihr?«
»Man nennt mich Melody.«
»Mélodie?«, wiederholte Béatrice mit starkem französischen Akzent. »Sprecht Ihr Englisch?«
»Ja. Das ist mein Bruder Jimmy.«
»Der kleine Víctor verlangt nach Ihnen, Señorita Béatrice«, wurden sie von Efrén unterbrochen.
»Wir sollten jetzt gehen«, befand Melody.
»Oh nein, auf keinen Fall«, widersprach Béatrice. »Der Kutscher wird euch fahren.«
»Nein danke, wir gehen lieber zu Fuß.«
»Dann versprecht, dass Ihr morgen um dieselbe Zeit wiederkommt«,
bat Béatrice. »Ich möchte, dass Víctor seine Retterin kennenlernt.«
Am nächsten Tag um dieselbe Zeit klopften Melody und Jimmy an die Tür des Hauses der Valdez e Inclán. Die Familie wartete im Wohnzimmer. Alcides hatte nach dem Gespräch mit Béatrice am Vorabend eingewilligt, Víctors Wohltäterin kennenzulernen.
»Seiner Exzellenz wird es gefallen, dass sich ein englischsprachiges Mädchen um Víctor kümmert.«
»Seine Exzellenz wird erzürnt darüber sein, dass wir ein völlig unbekanntes Mädchen ins Haus lassen. Außerdem, woher bist du dir so sicher, dass es sich um ein mittelloses Mädchen ohne Familie handelt?«
»So wie sie gekleidet war, bin ich mir sicher, dass sie sehr arm ist. Wenn sie nichts dagegen hat, würde ich sie gerne als Gouvernante für Víctor einstellen. Sie ist gestern im Geschäft so geschickt mit ihm umgegangen, dass wir nie wieder Angst haben müssen, wenn er einen seiner Anfälle bekommt.«
»Señorita Béatrice«, hatte Alcides gebrummt, »Sie wissen besser als jeder andere, wie heikel unsere Situation ist. Wir wissen nichts über das Mädchen. Vielleicht kann sie nicht mal lesen und schreiben. Wer ist sie? Woher kommt sie? Melody. Was ist das für ein Name?«, hatte er sich ereifert.
»Es ist nicht ihr Name. Sie wird nur so gerufen. Morgen werden wir herausfinden, was es zu wissen gilt«, hatte Béatrice unbeirrt gesagt. An der Entschlossenheit in ihrem Blick hatte Valdez e Inclán ablesen können, dass er sich nicht mit seinen Vorbehalten durchsetzen würde.
Als Melody und ihr Bruder hineingeführt worden waren und die Familie begrüßt hatten, setzten sich alle. Sogar Doña Belas Bruder Diogo war neugierig geworden und im Wohnzimmer erschienen.
Nachdem sie einige Höflichkeiten
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