Dem Winde versprochen
bemerkten, erwähnte niemand, dass das Mädchen sehr ebenmäßige und feine Gesichtszüge hatte. Ihre Nase war von winzigen Sommersprossen gesprenkelt. Ihr Mund
fiel ihnen besonders auf, vielleicht wegen der natürlichen Farbe, ein fast schon skandalöses Rot, oder vielleicht, weil er in seiner Üppigkeit einer reifen Frucht glich. Für sie waren Frauen mit feinen blassen Lippen der Inbegriff der Schönheit.
Sofort bemerkten sie den kleinen Jungen an ihrem Rockzipfel, der immer wieder zu ihnen hinüberschaute. Es musste ihr Sohn sein, denn die Ähnlichkeit war augenfällig. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber was sie sehr wohl sagen konnten, war, dass er kränklich aussah. Er war blass und dürr und seine Stirn voller Schweißperlen.
»Oh, Señorita Laurent!«, rief Marica und ging auf Béatrice zu, die etwas abseits bei den Garnrollen herumstöberte. »Guten Tag«, grüßte sie auf Französisch. »Wie geht es Ihnen? Was für eine angenehme Überraschung, Sie hier zu treffen. Ich habe Sie lange nicht gesehen.«
Marica Sánchez prahlte für ihr Leben gern mit ihrem fließenden Französisch. Béatrice wäre es lieber gewesen, wenn sie es gelassen hätte, denn ihre Aussprache war fürchterlich. Trotzdem gab sie sich höflich und beantwortete ihre Fragen.
Plötzlich hörte man einen dumpfen Schlag, als sei ein schwerer Gegenstand auf die Holzdielen gefallen. Es folgte ein wildes, nicht enden wollendes Stampfen. Víctor lag auf dem Boden und hatte offenbar einen Anfall: Er zuckte, verdrehte die Augen, und Schaum kam aus seinem Mund.
Sofort schrie und lief alles durcheinander. Doña Bela fiel wie üblich in Ohnmacht. Ihre Schwester eilte ihr zu Hilfe. Béatrice starrte das Kind an und wusste nicht, was sie tun sollte. Alles war ein einziges Chaos, und man hörte Rufe wie: »Holt Doktor O’Gorman!«, »Holt einen Priester! Das Kind ist besessen.«
Das Mädchen mit dem seltsamen Haar bahnte sich einen Weg, kniete vor dem Jungen nieder und bewegte ihn mit ungewöhnlicher Kraft, bis sie ihn in Seitenlage gebracht hatte und
sein Kopf auf ihren Beinen ruhte. Víctor zuckte immer noch. Es war schwierig, ihn in einer Position festzuhalten; der Körper bog sich nach hinten, und er verdrehte die Augen.
»Señor Aignasse«, sagte das Mädchen bewundernswert selbstsicher, »halten Sie bitte seine Beine.«
Auf ihre Worte folgte ein erstauntes Schweigen. Der Stoffhändler ging sofort in die Hocke und hielt Víctor fest, der immer noch ohne Bewusstsein war.
»Ein Taschentuch«, bat sie. »Jemand soll mir ein Taschentuch geben. Und diesen Holzstock.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Stock, mit dem der Stoff abgemessen wurde.
Béatrice Laurent reagierte schließlich und gab ihr ihr Leinentaschentuch, während Señora Aignasse ihr den Stock aushändigte.
»Ich werde Riechsalz besorgen.«
»Nein, kein Salz«, sagte die Rothaarige. »Ammoniak.«
»Gut«, erwiderte Béatrice und verließ das Geschäft.
Das Mädchen wischte den Speichel aus Víctors Mundwinkeln und schob ihm unter großen Schwierigkeiten den Stock in den Mund, damit er sich nicht auf Lippen und Zunge biss. Mehr als eine der Frauen wandte sich ab.
Jetzt sah es so aus, als ob das Mädchen Víctor etwas ins Ohr flüsterte. Erst später merkten sie, dass sie ein Lied sang und seinen Kopf wiegte. Es wurde immer stiller im Raum, und die Stimme war immer besser zu hören. Alle, sogar der kleine Junge an ihrem Rockzipfel, der schon angefangen hatte, unruhig zu werden, verfielen dem Zauber dieser melodiösen, tiefen Stimme. Sie sang in einer seltsamen Sprache, mit harten Wörtern, aber die Melodie war sanft wie ein Wiegenlied.
Víctors Zuckungen ließen nach, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel. Sein Mund war halb offen, und durch die einen Spaltbreit geöffneten Lider konnte man vage die Iris erkennen. Seine Brust hob und senkte sich wie ein wilder Blasebalg. Das Mädchen
strich ihm übers Haar, küsste seine Stirn und trocknete sein Gesicht.
»Hier ist das Ammoniak«, verkündete Béatrice und reichte ihr das bereits entkorkte Glasfläschchen.
»Danke«, sagte das Mädchen und hielt es Víctor einen Augenblick unter die Nase. »Da, nehmen Sie«, sagte sie dann, streckte den Arm zu Señorita Leonilda aus und deutete auf Doña Bela, »damit sie wieder zu sich kommt.«
»Meine Dienerin holt den Kutscher«, sagte Béatrice. »Wir können Víctor nicht nach Hause tragen.«
»Wo wohnen Sie, Señora?«
»In der Calle de Santiago, an der Ecke San Martín.«
»So
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