Den Tod vor Augen - Numbers 2
auch unsere. Unser Bus steht bereit. Wir müssen sofort los.
»Oma …?« Ich hab solchen Hunger. Ich kann nicht gehen, ohne mir vorher etwas zu essen zu holen. Nur einen Happen.
»Entschuldigung«, sage ich, »können Sie mich mal vorbeilassen?«
Keine Reaktion. Alle tun so, als hätten sie mich nicht gehört.
Ich versuche es noch einmal, als der Soldat die Nummern wiederholt. Nichts. Ich bin verzweifelt. Ich jage nach vorn, schiebe meine Hand durch eine Lücke zwischen zwei Menschen und taste blindlings umher. Meine Finger finden etwas – es fühlt sich an wie eine Scheibe Toast – und ich nehme sie. Jemand packt mein Handgelenk und umklammert es so fest, dass es wehtut.
»Das ist eine Schlange«, sagt der Mann. »Wir sind Engländer. Wir stellen uns an.«
»Tut mir leid«, antworte ich. »Ist für meine Oma. Sie hat Hunger und wir müssen los.«
Ich sehe hoch, in das Gesicht des Mannes, der mich festhält. Er ist älter, ungefähr fünfzig. Graue Haare und grimmiges Gesicht, man sieht deutlich, wie müde er ist, aber nicht das schockiert mich – es ist seine Zahl. 01012028. Nur noch sechs Monate zu leben. Ich sehe auch blitzartig seinen Tod, und das Bild ist schrecklich, brutal, ein Schlag vor den Kopf, Blut, Hirnmasse …
Ich lasse den Toast wieder auf den Teller fallen und versuche zurückzuweichen. Der Mann lässt mein Handgelenk los, er glaubt, er hat gewonnen, doch auch er muss etwas in meinem Blick gesehen haben, denn seine Gesichtszüge werden weicher, er greift nach vorn, nimmt eine Scheibe Toast und reicht sie mir.
»Für deine Oma«, sagt er. »Beeil dich, Junge. Sonst verpasst du deinen Bus.«
»Danke«, murmel ich vor mich hin.
Ich würde das Brot am liebsten sofort in mich hineinstopfen, doch der Mann beobachtet mich, genauso wie Oma, also trage ich es vorsichtig nach draußen, und als Oma und ich endlich im Bus sitzen, gebe ich ihr die Scheibe. Sie reißt den Toast in der Mitte durch und reicht mir eine Hälfte zurück. Wir schweigen. Ich stopfe mir meinen Teil in den Mund und mit zwei Bissen ist er verschwunden, während Oma ihre Hälfte genießt und dafür sorgt, dass sie immer noch etwas hat, als die Stadt hinter uns liegt und wir über die Hauptstraße Richtung Osten fahren. Die Straße verläuft auf einem aufgeschütteten Landstreifen, links und rechts davon kilometerweit überflutete Wiesen. Die Sonne ist endlich herausgekommen und hat das Wasser in eine Silberfläche verwandelt, die so grell leuchtet, dass man nicht hingucken kann.
»Oma?«, frage ich. »Was ist, wenn die ganze Erde überflutet wird? Was machen wir dann?«
Sie wischt sich mit dem Finger die Butter vom Kinn und leckt sie ab.
»Dann bauen wir uns eine Arche. Das wär was, du und ich, wir zwei. Und dann laden wir alle Tiere ein.« Sie kichert und nimmt meine Hand in die, die sie eben abgeleckt hat. An der Stelle, wo ich auf dem Boot die Fingernägel in meine Hand gekrallt habe, sind tiefe rote Halbmonde zu sehen.
»Was hast du denn da gemacht?«, fragt sie.
»Nichts.«
Sie sieht mich an und zieht die Augenbrauen zusammen. Dann drückt sie ein bisschen meine Hand.
»Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir schaffen das in London. Da gibt es Flutsperren und alles. Da werden solche Dinge richtig angepackt. Alles wird gut. Endlich. Gutes altes London.«
Sie lehnt den Kopf zurück, schließt die Augen und seufzt, glücklich, wieder nach Hause zu kommen. Aber ich kann mich nicht entspannen. Ich muss die Zahl des Mannes in der Schlange notieren, bevor ich sie vergesse. Sie hat mich erschüttert. Man bekommt ein Gefühl für die Zahlen der Menschen, wenn man sie sein Leben lang sieht. Und seine Zahl schien nicht zu ihm zu passen. Ich bin unruhig. Wenn ich sie aufgeschrieben habe, wird es mir besser gehen.
Ich hole mein Buch aus der Tasche und notiere alle Details, an die ich mich erinnere: Beschreibung (einfacher ist es, wenn ich den Namen weiß), Datum des heutigen Tages, Ort, seine Zahl, wie er sterben wird. Ich trage die Dinge sorgfältig ein, und jeder Buchstabe, jedes Wort macht mich ruhiger. Jetzt ist alles notiert, gespeichert in meinem Buch. Ich kann die Angaben später wiederfinden.
Ich stecke das Notizbuch zurück. Oma fängt leise an zu schnarchen. Sie ist komplett weggetreten. Ich schaue die anderen Reisenden an. Einige versuchen zu schlafen, andere sind ängstlich und wachsam – wie ich. Dort, wo ich sitze, sehe ich sechs oder sieben, die noch wach sind. Wir sehen uns gegenseitig an und schauen
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