Den Tod vor Augen - Numbers 2
bisschen jedenfalls. Doch je länger ich in London bin, desto mehr weiß ich, dass es ein Fehler war. Wir hätten nie herkommen dürfen. Es ist gefährlich. Viele Leute werden sterben.
Deshalb tu ich im Moment so als ob, halt den Kopf unten und sorg dafür, dass Oma glücklich ist, aber nur, bis ich weiß, wie ich von hier wegkomm und wohin. Ich muss einen Ort finden, wo es keine Achtundzwanziger gibt. Wenn niemand anderes im Januar 2028 stirbt, ist es doch logisch, dass auch meine Überlebenschance größer wird. Ich kenn ja meine eigene Zahl nicht. Ich weiß sie einfach nicht. Und die einzige Möglichkeit, sie herauszubekommen, wäre, jemanden zu finden, der auch die Zahlen sehen kann – aber ich hab das sichere Gefühl, dass ich der Einzige bin.
Es gibt einen Stau vor der Tür zum Empfang. Ich hasse Menschenansammlungen, schon immer – zu viele Menschen, zu viele Todeszahlen –, doch ich zwinge mich, durch den Eingang zu gehen und mich anzustellen. In Sekundenschnelle sammeln sich hinter mir Schüler, pferchen mich ein und ich gerate in Panik. Unter den Achseln und auf meiner Oberlippe bildet sich Schweiß. Ich schau mich nach einem Fluchtweg um, sehe Zahlen über Zahlen, die auf 2028 enden, und plötzlich ist mein Kopf voll davon – von dem Lärm, dem Chaos, von eingekeilten Gliedmaßen, gebrochenen Knochen, Dunkel, Verzweiflung.
Ich muss mich zusammenreißen. Mum hat mir gezeigt, wie ich das machen kann.
»Atme langsam«, würde sie sagen. »Zwing dich dazu. Durch die Nase ein und aus durch den Mund. Schau niemanden an. Sieh nach unten. Durch die Nase ein – zwei, drei, vier – und aus durch den Mund – zwei, drei, vier.«
Ich zwinge mich, nach unten auf Beine, Füße und Taschen zu schauen. Das Gefühl wird aufhören, sobald ich ihre Zahlen nicht mehr sehe. Alles wird gut. Mein Atem geht unruhig und flach, meine Lunge bekommt nicht genügend Luft.
Ein durch die Nase und aus durch den Mund. Na los, ich schaff das.
Es funktioniert nicht. Es wird immer schlimmer. Mir wird übel … gleich werde ich ohnmächtig …
Jemand drängelt von hinten. Ich schalte auf stur und weiche nicht von der Stelle.
Atme langsam. Wieso funktioniert es nicht?
Weiterer Druck. Der Junge steht jetzt direkt hinter mir und versucht mich aus dem Weg zu stoßen. Gleich hat er es geschafft. Dann stürz ich und werde niedergetrampelt, kurz und klein getreten. Vielleicht soll es ja so sein, aber so will ich nicht sterben. Ich gebe nicht kampflos auf.
Genau!
Ich wirble herum und ramme ihm den Ellenbogen voll in die Rippen.
»Scheiße! Pass doch auf!« Er spuckt die Wörter raus, ein Junge, der etwas kleiner ist, mit Rattenzähnen und Bürstenschnitt. Ich hab ihm wehgetan und der Blick in seinen Augen sagt mir, dass er es mir heimzahlen wird. Ich kenn diesen Blick – ich hab ihn schon oft gesehen. Ich sollte auf alles gefasst sein, wachsam, bereit für den ersten Schlag, doch seine Zahl brennt sich in mein Bewusstsein. Sie ist anders, wie merkwürdig. Er hat nur noch drei Monate. 06122027. Blitzartig nehme ich eine Klinge wahr, den metallischen warmen Geruch von Blut und mir wird übler als jemals zuvor. Ich kann mich nicht rühren – seine Zahl, sein Tod hat mich im Griff. Ich schließe die Augen, versuche die Zahl aus dem Kopf zu bekommen, den Bann zu brechen. Ich öffne sie wieder, nur einen Sekundenbruchteil bevor mich der Schlag des Jungen trifft.
Jemand muss ihn angerempelt haben, denn er erwischt nur mein Ohr und auch das nicht besonders heftig, aber fest genug, um mich zurück in die Realität zu holen. Ich balle die Fäuste und schlag ihm in den Magen. Ich tu ihm weh, aber irgendwie scheint ihm das nichts auszumachen, denn er fällt schon wieder über mich her, ein Mal, zwei Mal, voll in die Rippen. Die Schüler um uns herum kreischen und johlen, doch das ist nicht wichtig. Alles, was zählt, sind er und ich.
Ich schlage zurück. Jetzt will ich ihm wehtun. Ich will, dass er verschwindet. Ich will, dass das Ganze hier verschwindet – der Junge, die andern, die Schule, Oma, London.
»Okay, Jungs, hört auf!«
Es ist einer vom Sicherheitsdienst mit den Ausmaßen eines mittleren Gebirges. Er ist durch die Menge gewalzt und hat uns beide am Genick gepackt.
Rattenzahn versucht zu protestieren.
»Ich hab nichts getan! Der da ist einfach über mich hergefallen! Was sollt ich denn machen?«
Aber die einzige Reaktion ist, dass er noch einmal kräftig geschüttelt und angeraunzt wird: »Halt die
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