Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
ist damit natürlich nicht vom Tisch. »Nur
wenige kritische Reflexionen problematisieren das Züchtungsthema jenseits der allzu naheliegenden Frage nach der N S-Geschichte und -Ideologie.« 16 In der internationalen Diskussion taucht das Problem sehr bald schon wieder auf, allerdings unter einem anderen Blickwinkel.
Das Zauberwort heißt »Gentechnologie«. Damit ist Petra Gehring wieder bei dem Stichwort gelandet, das ihr den Antrieb gab
für die beschriebene Begriffsuntersuchung. Das Phänomen, das am Anfang interessierte, ist die Gentechnologie. Gehrings philosophische
Vorgehensweise war zunächst eine Begriffsanalyse, die historisch vorgeht; an deren Ende taucht die Gentechnologienoch einmal neu auf, hat aber den Charakter des Einmaligen, völlig Neuen verloren. Es ist ja nicht so, dass solche Dinge aus
dem Nichts plötzlich da sind, sondern sie entwickeln sich. Petra Gehring zeigt, dass in unserer hochkomplexen Welt ein philosophischer
Blick gefragt ist, der nicht nur in eine Richtung schaut, sondern einerseits genau auf das blickt, was sich an gegenwärtigen
Tendenzen und Phänomenen zeigt und ebenso genau die Geschichte dieser Phänomene analysiert.
Neben der Gentechnik ist auch die Hirnforschung ein Thema, das vor allem in Bezug auf die Frage nach einem freien Willen in
den letzten Jahren eine breite, auch in den Feuilletons der großen Zeitungen hitzig geführte Debatte provoziert hat. »Haben
wir lediglich das Gefühl, einen freien Willen zu haben? Legt eigentlich das Gehirn fest, was wir wollen und tun?« 17 Vor allem zwei Neurobiologen bestimmen den Gang dieser Diskussion: Gerhard Roth und Wolf Singer. Sie sind der Meinung, unser
Gehirn bestimme, was wir tun, und wir müssten die Idee eines freien Willens endgültig begraben. Petra Gehring interessiert
in diesem Zusammenhang besonders auch die rechtspolitische Seite, denn wenn Menschen nicht frei sind, können sie auch für
begangene Straftaten nicht voll verantwortlich gemacht werden.
Die Neuroforscher sind der Meinung, dass dem sogenannten freien Willen eine Entscheidung des Gehirns vorausgeht, dass also
das Gehirn immer schon entschieden hat, was wir tun, und wir nur das subjektive Gefühl haben, die Entscheidung aus freiem
Willen getroffen zu haben, und sie versuchen auch, diese These experimentell zu belegen. Gehring argumentiert nicht gegen
die Experimente,sondern gegen die Interpretation der Ergebnisse. Freiheit ist ja sowieso nie absolut, sagt Gehring, sondern immer gebunden
an Umstände. Außerdem ist der Begriff der freien Handlung nicht als Glied innerhalb einer Kausalkette zu begreifen. Auch wenn
ich unter Kausalzwang stehe, kann ich als Person frei sein. Gehring führt das Beispiel einer Sportlerin an, die trotz einer
Ausweichbewegung im Wettkampf getroffen wird, zu Boden geht und verliert. So der kausale Zusammenhang. Sie kann aber aus freier
Entscheidung am Wettkampf teilgenommen und das Verlieren als Möglichkeit akzeptiert haben.
In der Hirnforschung gibt es seit einigen Jahren bildtechnische Verfahren, die es erlauben, Prozesse im Gehirn anschaulicher
zu machen. Gehring ist es wichtig zu betonen, dass diese Bilder aber nicht die Wirklichkeit sind, sondern dass es sich um
Artefakte
handelt. Es gibt den Blick in das Innere des Gehirns nicht, weil am lebenden Gehirn (des Menschen) nicht experimentiert werden
darf. »Die Hirnforschung kann über das lebende menschliche Gehirn – allen schönen Bildern zum Trotz – im Grunde nach wie vor
wenig sagen, denn bis auf den klinischen Sonderfall (jemand muss operiert werden) ist das lebende Gehirn des Menschen für
die experimentierende Forschung tabu.« 18
Das Menschenbild der Hirnforscher ist materialistisch. Gehrings Anliegen ist es, zu zeigen, dass es sich um ein Bild vom Menschen
handelt, das weitreichende Folgen haben kann, sobald es nämlich erlaubt sein sollte, experimentell am lebenden Gehirn zu arbeiten,
und auch dann, wenn diese Theorie Eingang fände in das Strafrecht. Die unbefristete Verwahrung von Verbrechern könnte eine
der Folgen sein. Das aber sei ein in den Demokratien unzulässiger Vorgang, so Gehring: »Demokratien – so auch derdeutsche Grundkonsens seit 1945 – leben davon, sich mit dem Verbrechen nicht ›objektiv‹, also durch biomedizinische Festschreibung
(und Wegsperren) abzufinden. Demokratien leben davon,
begrenzt
zu strafen und Straftätern zwar soziale Hilfe zu bieten, nicht jedoch sie (oder gar ihr
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