Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Eindruck hat man, wenn man Petra Gehring gegenübertritt: Man wird auf der Stelle hineingenommen
in ein Gespräch, man fühlt sich nie taxiert, misstrauisch begutachtet, auf Vor- und Nachteile geprüft. Es kommt auf den Zwischenraum
an, der sich in der Begegnung eröffnet, von Anfang an, auch wenn man sich vorher nicht gekannt hat. Man kann im Moment beobachten,
wie eine Wirklichkeit geschaffen wird, die Wirklichkeit eines Gesprächs, in dem die Teilnehmer sich die Wortbälle zuwerfen.
Worte, Sprache, auch das ein Thema Petra Gehrings. Sie sagt von sich, sie sehe es als einen lebenslangen Lernprozess an, Texte
zu schreiben, die sprachlich auf der Höhe des eigenen Anspruchs ankommen. Gehring ist eine sehr anspruchsvolle Schreiberin,
und ein Hauptanliegen ist es ihr, am eigenen Stil zu feilen, nie einfach etwas hinzuschreiben, sich stilistisch weiterzuentwickeln.
Ihren Texten merkt man die Arbeit am Stilistischen an, sie nimmt ihre LeserInnen ernst, möchte sie nicht mit zweitklassiger
Kost abspeisen.
Petra Gehring beschäftigt sich aber auch mit anderen Aspekten von Sprache. So untersucht sie zum Beispiel das Vermögen der
Sprache, wie eine durch körperlichen Einsatz hervorgerufene Handlung zu wirken. Als Beispiel dient ihr eine Verletzung, die
durch Sprache verursacht wird. »Im Moment der sprachlichen Verletzung wirkt nicht die Sprache verletzend, sondern in einem
solchen Moment fungiert die Sprache als Ding. Die fragliche Sprechhandlung verwandelt sich – auch wenn Wörter gesagt werden
mögen – in ihrem Sinn, in der Art ihrer physischen Qualität.Sie wird zu einer physischen Handlung der Person, die spricht.« 7 Hier sind Extremsituationen angesprochen, in denen es so etwas wie einen letzten Satz gibt, auf den das Gegenüber nicht mehr
antwortend reagieren kann, ein Satz wie ein Hieb, der sitzt. »Zwischen Autofahrern eskalierender Streit, das nackte Rechthaben,
die verzerrten Vorhaltungen der Eifersucht, die kalte Wut des provozierten Uniformträgers, die Pfeile gegen die allerverletzlichste
Stelle im Ehekrieg, der ultimative Punkt einer Eskalation: der allerletzte Satz, den jemand in der Abkehr herausschleudert,
bevor er oder sie geht.« 8 In einem solchen letzten Satz demonstriert sich nicht unbedingt die Macht des Stärkeren. Er kann auch aus einem Gefühl äußersten
Gedemütigtseins oder in der Konzentration auf das Selbstmitleid hervorgestoßen werden. »Gewollt oder ungewollt scheint dieser
Akt die sprachliche Geste in ein anderes ihrer selbst zu verwandeln. Aus den Worten springt eine Fratze.« 9 In einem solchen Moment kann die Sprache selbst als Tat bezeichnet werden. Die Reaktion dessen, der die Sprache auf diese
Weise »abbekommt«, ist körperlicher Natur: »vom kalten Schreck bis zur elektrisierenden Anregung reagieren wir physisch auf
erlebte Sprache.« 10 Solche Erlebnisse kennen wir alle, zum Beispiel das Zusammenzucken unter einer Schimpftirade oder das In-die-Luft-Springen
bei Bekanntgabe einer freudigen Nachricht. Überall in solchen Momenten wirkt Sprache direkt auf den Körper der angesprochenen
Person.
An diesem Beispiel wird Petra Gehrings Arbeitsmethode besonders deutlich. Es ist ein bestimmtes Phänomen, was sie beobachtet
und was sie interessiert. Sie untersucht das Phänomen vor dem Hintergrund dessen, was andere bereits darüber gesagt haben.
In unserem Beispiel sind esMaurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) und Judith Butler (geb. 1956), die sich ebenfalls mit der Körperkraft von Sprache beschäftigt haben. Außerdem kennen
wir alle aus der Alltagssprache den Begriff der verletzenden Sprache. Es kann passieren, dass man einer anderen Person den
Vorwurf macht, durch einen bestimmten Satz oder auch nur ein Wort verletzt worden zu sein. Gehring versucht herauszufinden,
was wir wirklich meinen, wenn wir das sagen, und sie untersucht, ob das, was Butler und Merleau-Ponty dazu sagen, das Phänomen
ausreichend in den Blick nimmt. Beide Stoßrichtungen ihres Philosophierens werden klar: Gehring lässt sich anregen von den
Phänomenen selbst und von Texten. Sie beobachtet, konstatiert, nimmt mit den Sinnen wahr und liest, ist eine manische Leserin.
Was sie dann denkerisch daraus macht und was wir lesen können, ist ein Angebot für eine neue Auseinandersetzung. Es ist so,
als würde in das Geflecht aus Bedeutungen und Sachverhalten, das bereits besteht, ein neuer Faden hineingewebt werden. Das
betrifft all ihre
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