Denn vergeben wird dir nie
ihre Finger berührten eine eingedrückte Stelle in Andreas
Stirn. Als sie zurückzuckte, bemerkte sie die Blutlache, in
der sie kniete.
Und dann, von irgendwo her in dem großen Raum, hörte
sie ganz deutlich jemanden atmen – heftige, schwere, tiefe
Atemzüge, die mit einer Art Gekicher endeten.
In panischer Angst versuchte sie aufzustehen, aber sie
rutschte auf dem Blut aus und fiel vornüber auf Andreas
Brust. Ihre Lippen berührten etwas Glattes und Kühles –
Andreas goldenen Anhänger. Dann rappelte sie sich hoch,
drehte sich um und rannte los.
Ihr war nicht bewusst, dass sie den ganzen Weg über
schrie, bis sie schon fast zu Hause angelangt war und Ted
und Genine Cavanaugh in den Garten hinausliefen und
ihre jüngere Tochter sahen, die mit ausgestreckten Armen
aus dem Wald gerannt kam, eine zarte Gestalt, über und
über bedeckt vom Blut ihrer Schwester.
2
ABGESEHEN VON DER BASEBALLSAISON, wenn
sein Team trainierte oder ein Spiel bestritt, arbeitete der
sechzehnjährige Paulie Stroebel nach der Schule und an
den Samstagen in Hillwoods Tankstelle. Ansonsten hätte
er im Feinkostgeschäft seiner Eltern einen Block weiter in
der Main Street ausgeholfen, etwas, was er schon immer
getan hatte, seit er sieben Jahre alt war.
In der Schule lernte er nur langsam, war aber in
technischen Dingen geschickt und liebte es, Autos zu
reparieren. Seine Eltern hatten Verständnis, dass er lieber
für jemand anderen arbeiten wollte. Mit seinen
strubbeligen blonden Haaren, blauen Augen, runden
Backen und seinen stämmigen eins dreiundsiebzig galt
Paulie bei seinem Boss in der Tankstelle als ruhiger, hart
arbeitender Angestellter und bei seinen Mitschülern an der
Delano Highschool als ziemlich schwachköpfiger Trottel.
Sein einziger Erfolg in der Schule bestand darin, dass er in
die Footballmannschaft aufgenommen wurde.
Als am Freitag die Nachricht vom Mord an Andrea
Cavanaugh die Schule erreichte, wurden Beratungslehrer
in alle Klassen geschickt, um den Schülern die furchtbare
Neuigkeit mitzuteilen. Paul war gerade in eine Aufgabe
vertieft, als Miss Watkins eintrat, kurz mit dem Lehrer
flüsterte und dann auf den Schreibtisch klopfte, um sich
Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Ich muss euch etwas sehr Trauriges mitteilen«, begann
sie. »Soeben haben wir erfahren …« In stockenden Sätzen
klärte sie die Schüler darüber auf, dass ihre Mitschülerin
Andrea Cavanaugh ermordet worden war, Opfer eines
brutalen Verbrechens. Es erfolgte ein Chor aus
schockierten Ausrufen und ungläubigem Protest.
Doch ein lautes »Nein!« übertönte alles andere. Der
stille, ruhige Paulie Stroebel war mit schmerzverzerrtem
Gesicht aufgesprungen. Während seine Klassenkameraden
ihn anstarrten, begannen seine Schultern zu zucken.
Heftiges Schluchzen entrang sich seiner Brust, und er
stürzte aus dem Klassenzimmer. Bevor sich die Tür hinter
ihm schloss, sagte er noch etwas, aber seine Stimme war
so erstickt, dass die meisten es nicht verstanden. Nur der
Schüler, der am nächsten zur Tür saß, hätte später
schwören können, dass Paulie gesagt hatte: »Ich kann
nicht glauben, dass sie tot ist!«
Emma Watkins, die Beratungslehrerin, die selbst noch
ganz benommen von der schrecklichen Nachricht war,
hatte das Gefühl, ein Messer hätte sie durchbohrt. Sie
mochte Paulie sehr und konnte sich in die Lage des sich
unermüdlich abrackernden Schülers einfühlen, der sich so
verzweifelt um die Gunst der anderen bemühte.
Sie war sicher, dass die gequälten Worte, die er
hervorgestoßen hatte, gelautet hatten: »Ich hab nicht
geglaubt, dass sie tot ist!«
An jenem Nachmittag erschien Paulie zum ersten Mal
nicht zur Arbeit auf der Tankstelle und rief auch nicht
seinen Boss an, um seine Abwesenheit zu erklären. Als
seine Eltern an jenem Abend nach Hause kamen, fanden
sie ihn auf seinem Bett liegend, den Blick an die Decke
gerichtet, Fotos von Andrea verstreut neben ihm.
Hans und Anja Wagner-Stroebel waren beide in
Deutschland geboren und als Kinder mit ihren Eltern in
die Vereinigten Staaten gekommen. Sie hatten sich erst
kennen gelernt und geheiratet, als sie schon auf die vierzig
zugingen, und mit ihren zusammengelegten Ersparnissen
das Feinkostgeschäft eröffnet. Sie waren von Natur aus
eher zurückhaltend und kümmerten sich mit größter
Fürsorge um ihren einzigen Sohn.
Jeder, der den Laden betrat, sprach über den Mord, alle
fragten sich, wer um alles in der Welt
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