Denn vergeben wird dir nie
Zeit
war sie schließlich eingeschlafen. Vielleicht ist Andrea
inzwischen wieder zu Hause, dachte sie beim Aufwachen
in banger Hoffnung. Sie schlüpfte aus dem Bett, rannte zur
Tür und den Flur entlang zu Andreas Zimmer. Sei da ,
flehte sie. Bitte, sei da . Sie öffnete die Tür. Andreas Bett
war unbenutzt.
Ihre Schritte waren kaum zu hören, als Ellie mit bloßen
Füßen die Treppe hinunterlief. Die Nachbarin,
Mrs. Hilmer, saß mit Mommy in der Küche. Mommy hatte
dieselben Sachen wie gestern Abend an, und sie sah aus,
als ob sie sehr lange geweint hätte.
Ellie lief zu ihr. »Mommy.«
Mommy umarmte sie und fing zu schluchzen an. Ellie
spürte die Hand ihrer Mutter, die ihre Schulter
umklammerte, so fest, dass es beinahe wehtat.
»Mommy, wo ist Andrea?«
»Wir … wissen … es nicht. Daddy und die Polizei
suchen nach ihr.«
»Komm, Ellie, zieh dich schon mal an, dann mach ich
dir inzwischen Frühstück«, sagte Mrs. Hilmer.
Niemand hatte ihr gesagt, sie solle sich beeilen, weil der
Schulbus bald käme. Ohne zu fragen, wusste Ellie, dass
sie heute nicht zur Schule gehen musste.
Sie wusch sich pflichtschuldig Gesicht und Hände,
putzte ihre Zähne, bürstete sich die Haare, zog dann ihre
Spielkleider an – ein T-Shirt und ihre blaue Lieblingshose
– und ging wieder hinunter.
Gerade als sie sich an den Tisch gesetzt hatte, auf den
Mrs. Hilmer Saft und Cornflakes gestellt hatte, kam
Daddy zur Tür herein. »Keine Spur von ihr«, sagte er.
»Wir haben überall gesucht. Es gibt einen Typen, der
gestern in der Stadt von Tür zu Tür gegangen ist, um für
irgendeinen blöden Zweck Geld zu sammeln. Er war am
Abend im Imbisslokal und ist gegen acht Uhr wieder
gegangen. Auf dem Weg zum Highway müsste er an Joans
Haus vorbeigekommen sein, ungefähr um die Zeit, als
Andrea es verlassen hat. Sie sind auf der Suche nach ihm.«
Ellie bemerkte, dass Daddy den Tränen nahe war. Er
hatte überhaupt keine Notiz von ihr genommen, aber das
machte ihr in diesem Moment nichts aus. Es kam
manchmal vor, dass Daddy in trüber Stimmung nach
Hause kam, weil ihn etwas in seiner Arbeit mitgenommen
hatte, und dann sagte er eine Weile fast nichts. Jetzt hatte
er denselben Gesichtsausdruck.
Andrea hatte sich versteckt, dessen war sich Ellie sicher.
Wahrscheinlich war sie absichtlich so früh von Joan
weggegangen, weil sie sich mit Rob Westerfield im
Versteck treffen wollte, dann war es vielleicht spät
geworden, und sie hatte Angst gehabt, nach Hause zu
gehen. Daddy hatte ihr gedroht, wenn sie ihn auf die
Frage, wo sie gewesen sei, noch einmal anlügen würde,
dann würde er ihr verbieten, im Schulorchester
mitzuspielen. Das hatte er gesagt, als er herausbekommen
hatte, dass sie mit Rob Westerfield eine Runde in dessen
Auto gedreht hatte, statt in der Bücherei zu sitzen, wie sie
behauptet hatte.
Andrea wollte unbedingt in das Orchester. Im letzten
Jahr war sie als Einzige aus der ersten Highschoolklasse
bei den Flöten aufgenommen worden. Aber wenn sie
vorzeitig von Joan weggegangen und Rob im Versteck
getroffen hatte und Daddy würde davon erfahren, dann
konnte sie sich die Sache an den Hut stecken. Mommy
sagte zwar immer, Andrea könne Daddy um den Finger
wickeln, aber letzten Monat hatte sie das nicht gesagt. Da
hatte ein Polizist Daddy nämlich gesteckt, dass er Rob
Westerfield wegen zu schnellen Fahrens angehalten hätte
und dass Andrea mit ihm im Auto gewesen sei.
Daddy hatte bis nach dem Essen gewartet. Dann hatte er
Andrea gefragt, wie lange sie in der Bücherei gewesen sei.
Sie hatte nicht geantwortet.
Darauf hatte er gesagt: »Du bist also schlau genug, um
zu kapieren, dass der Kollege, der Westerfield angehalten
hat, mir erzählen würde, dass du mit ihm zusammen warst.
Andrea, dieser Kerl ist nicht nur reich und verzogen, er ist
durch und durch verdorben. Wenn er sich im Rausch der
Geschwindigkeit umbringen will, dann soll er das
meinetwegen tun, aber du wirst jedenfalls nicht im
gleichen Auto sitzen. Ich verbiete dir ein für alle Mal , noch irgendetwas mit ihm zu tun zu haben.«
Das Versteck befand sich in der Garage hinter dem
riesigen Haus, das die alte Mrs. Westerfield, Robs
Großmutter, den Sommer über bewohnte. Die Tür war nie
abgeschlossen, und manchmal schlichen sich Andrea und
ihre Freundinnen hier ein und rauchten Zigaretten. Andrea
hatte Ellie ein paar Mal mitgenommen, als sie auf sie
aufpassen sollte.
Ihre Freundinnen waren sauer auf Andrea gewesen,
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