Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Schatten getaucht hatte.
Simon, der nicht zugeben wollte, dass er nichts Besonderes erkennen konnte, strengte seine Augen an. Gerade, als er verzweifelt aufgeben wollte, entdeckte er tatsächlich etwas: dunkle Striche, die unter der glasigen Bergflanke dahinliefen wie Einschlüsse im Inneren eines Edelsteins. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er Einzelheiten auszumachen.
»Meinst du die Schatten?«, fragte er endlich. Binabik nickte mit verzückter Miene. »Na und?«, fragte Simon. »Bedeuten sie etwas?«
»Mehr als Schatten«, entgegnete Binabik ruhig. »Was du dort erblickst, sind die Türme des verlorenen Tumet’ai.«
»Türme innen im Berg? Und was ist Tumet’ai?«
Binabik runzelte spöttisch die Stirn. »Simon. Mehrere Male hast du schon diesen Namen gehört. Was hat nur Doktor Morgenes für einen Schüler angenommen! Erinnerst du dich nicht, wie ich mit Jiriki über das Uakiza Tumet’ai nei-R’i anis sprach?«
»Doch, irgendwie schon«, antwortete Simon unbehaglich. »Was ist es?«
»Das Lied vom Untergang der Stadt Tumet’ai, einer der großenNeun Städte der Sithi. Das Lied erzählt davon, wie die Stadt verlassen wurde. Die Schatten, die du da siehst, sind ihre Türme, gefangen im Eis seit vielen tausend Jahren.«
»Wirklich?« Simon starrte weiter auf die dunklen, senkrecht unter dem milchigen Eis verlaufenden Schatten. »Warum verließen die Sithi ihre Stadt?«, fragte er.
Binabik strich mit der Hand über Qantaqas Rückenfell. »Eine Anzahl von Gründen gibt es, Simon. Wenn du willst, erzähle ich dir nachher einen Teil der Geschichte, wenn wir weiterreiten. Es wird uns dabei helfen, die Zeit zu vertreiben.«
»Warum haben sie aber auch ihre Stadt auf einem Eisberg gebaut?«, fragte Simon. »Das kommt mir unsinnig vor.«
Binabik sah griesgrämig zu ihm auf. »Simon, du sprichst mit jemandem, der in den Bergen aufgewachsen ist, wie du dich zweifellos erinnern wirst. Ein Teil der Männlichkeit, denke ich, besteht darin, dass man seine Worte abwägt, bevor man den Mund aufmacht.«
»Tut mir leid.« Simon versuchte ein schalkhaftes Grinsen zu unterdrücken. »Ich wusste nicht, dass Trolle wirklich gern dort leben, wo sie wohnen.«
»Simon«, erklärte Binabik streng, »ich denke, es wäre gut, wenn du jetzt die Pferde holen würdest.«
»So, Binabik«, fing Simon endlich an, »was also sind die Neun Städte?« Sie waren bereits eine Stunde geritten, hatten sich jetzt vom Fuß des Gebirges abgewandt und waren in das ungeheure weiße Meer der Öde eingetaucht. Sie folgten dem Verlauf von etwas, das Binabik die Alte Tumet’ai-Straße nannte, einem breiten Damm, der einst die Stadt im Eis mit ihren Schwestern im Süden verbunden hatte. Von einer Straße war jetzt nur noch wenig zu erkennen. Ein paar große Steine standen noch zu beiden Seiten des Pfades, und ab und zu fand sich unter der Schneedecke ein Stück Kopfsteinpflaster.
Simon hatte seine Frage weniger deshalb gestellt, weil er unbedingt noch mehr über die Geschichte Osten Ards lernen wollte – sein Kopf war mit seltsamen Namen und fremden Orten bereits derart vollgestopft, dass kaum noch ein Gedanke hineinpasste –, sondern weil die eintönige Gegend, das endlose Schneefeld, nur seltenvon einer einsamen Baumgruppe unterbrochen, in ihm die Sehnsucht nach einer Geschichte aufsteigen ließen.
Binabik, der ein Stückchen vorausgeritten war, flüsterte Qantaqa etwas zu. Die Wölfin stieß dampfende Atemwolken aus und blieb stehen, bis Simon aufgeholt hatte. Simons Stute scheute und brach aus. Während Qantaqa, ohne sie zu beachten, neben ihr herknirschte, klopfte Simon dem Pferd den Hals und sprach ihm leise Mut zu. Noch ein paar Schritte, bei denen es heftig den Kopf schwenkte, dann war das Tier so weit besänftigt, dass es weiterging und nur noch gelegentlich unruhig schnaubte. Die Wölfin ihrerseits kümmerte sich nicht um das Pferd. Sie hielt den Kopf gesenkt und schnüffelte im Schnee.
»Gut, Heimfinder, gut.« Simon streichelte ihre Schulter und fühlte, wie sich die kräftigen Muskeln unter seinen Fingern bewegten. Er hatte ihr einen Namen gegeben, und nun gehorchte sie ihm. Stille Freude erfüllte ihn. Sie war sein Pferd.
Binabik lächelte über Simons stolze Miene. »Du erweist ihr Achtung. Das ist etwas Gutes«, erklärte er. »Zu oft geschieht es, dass Menschen glauben, wer ihnen dient, täte es, weil er ihnen unterlegen oder schwach ist.« Er lachte. »Wer so etwas denkt, sollte ein Tier wie Qantaqa reiten, die ihn
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