Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
sein schien, sodass beide sich um die Gegenwart drehten wie in einem riesigen Rad …
Das Rad. Der Schatten des Rades …
Vor ihm stieg ein Traumbild auf, ein riesiger schwarzer Kreis, der unerbittlich nach unten rollte, ein gigantisches Rad, das alles vor sich hertrieb. Auf irgendeine Art erzwang sich die Vergangenheit ihren Weg mitten in diesen Augenblick der Gegenwart und warf einen langen Schatten auf das, was sein würde …
Da war etwas in seinem Bewusstsein, gerade außerhalb seiner Reichweite, irgendeine verhüllte Gestalt, die er spürte, aber nicht erkennen konnte … Es hing mit seinen Träumen zusammen, mit Vergangenheit und Zukunft …
»Ich sollte mehr darüber wissen, Binabik«, meinte er endlich. »Es gibt so vieles, das ich begreifen muss. Ich kann gar nicht alles behalten. Wie hießen die anderen Städte?« Eine Bewegung über ihnen am Himmel lenkte ihn ab, eine Wolke verstreuter, dunkler Schemen, die dahinflatterten wie vom Wind verwehte Blätter. Er kniff die Augen zusammen, sah dann aber, dass es nur ein aufsteigender Vogelschwarm war.
»Über die Vergangenheit Bescheid zu wissen ist stets etwas Gutes, Simon«, erwiderte der kleine Mann. »Aber es ist die Entscheidung, was davon wichtig ist und was nicht, die den weisen Mann ausmacht. Und wiewohl ich fürchte, dass die Namen der Neun Städte uns wenig nützen werden, ist es doch gut, sie zu kennen. Einst wusste jedes Kind in der Wiege, wie sie hießen.
Asu’a , Da’ai Chikiza, Enki-e-Shao’saye und Tumet’ai kennst du schon. Jhiná T’seneí liegt versunken unter den südlichen Meeren. Auf der Insel Warinsten, Geburtsheimat eures Königs Johan Presbyter, sollen die Ruinen von Kementari stehen, doch niemand, glaube ich, hat sie seit Jahr und Tag gesehen. Ebenfalls lange nicht erblickt wurden Mezutu’a und Hikehikayo, beide sollen in den nordwestlichen Bergen von Osten Ard liegen. Die letzte heißt Nakkiga, und wenn ich richtig denke, hast du auch sie schon gesehen – zumindest in gewisser Weise …«
»Was meinst du damit?«
»Nakkiga war die Stadt, die die Nornen einst im Schatten der Sturmspitze erbauten, bevor sie sich in den großen Eisberg selbst zurückzogen. Als du mit Geloë und mir über die Straße der Träume wandertest, bist du dort gewesen, aber gewiss hast du die bröckelnden Reste der Stadt über der Unermesslichkeit des Berges übersehen. Aber so hast du, könnte man sagen, auch Nakkiga besucht.«
Simon schauderte und erinnerte sich an seine Vision der endlos eisigen Hallen im Innern der Sturmspitze, an die geisterfahlen Gesichter und brennenden Augen, die in den Tiefen des Berges geglüht hatten. »Und näher möchte ich dieser Stadt auch niemals kommen«, sagte er. Mit schmalen Augen spähte er zum Himmel. Noch immer kreisten über ihnen träge die Vögel. »Sind das Raben?«, fragte er Binabik und deutete nach oben. »Sie fliegen schon eine ganze Weile ständig über unseren Köpfen.«
Der Troll sah auf. »Raben, ja, und recht große sogar.« Er grinste boshaft. »Vielleicht warten sie darauf, dass wir ganz und gar tot umfallen und ihnen so bei der Nahrungssuche behilflich sind. Schade ist es, sie zu enttäuschen, oder?«
Simon brummte: »Vielleicht wissen sie, dass ich kurz vor dem Verhungern bin – dass ich nicht mehr lange durchhalte.«
Binabik nickte ernsthaft. »Wie gedankenlos ich doch bin. Natürlich, Simon, ist es wahr, dass du seit dem Frühstück keinen Bissen mehr zu dir genommen hast, und – bei Chukkus Eiern! Du armer Kerl! Das liegt ja schon eine ganze Stunde zurück! Du musst dich in Eile dem furchtbaren Moment deines Endes nähern.«
Nach dieser hämischen Bemerkung begann er jedoch in seinem Rucksack zu wühlen, wobei er sich mit der anderen Hand an Qantaqas Rücken festhielt. »Vielleicht entdecke ich ein Stückchen Trockenfisch für dich.«
»Vielen Dank.« Simon gab sich Mühe, begeistert zu klingen – schließlich war selbst Trockenfisch besser als gar nichts.
Während Binabik seine umständliche Suche fortsetzte, schaute Simon wieder zum Himmel auf. Über ihnen schwebte noch immer lautlos der schwarze Vogelschwarm, unter den düsteren Wolken vom Wind zerfetzt wie alte Lumpen.
Der Rabe stolzierte mit aufgeplustertem Gefieder auf dem Fensterbrett hin und her. Andere derselben Art, von den Abfällen des Galgens fett und frech geworden, krähten heiser in den entlaubten Zweigen vor dem Fenster. Aus dem stillen, verlassenen Hof drangen keine anderen Geräusche hier hinauf.
Auch
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