Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
fressen kann, wenn sie das möchte. Dann würden sie Bescheidenheit lernen.« Er kraulte den Fellkamm zwischen Qantaqas Schultern. Die Wölfin blieb einen Augenblick stehen, um diese kleine Aufmerksamkeit zu würdigen, und stapfte dann weiter durch den Schnee.
Sludig, der unmittelbar vor ihnen ritt, drehte sich um. »Ha! Du möchtest also nicht nur ein Kämpfer sein, sondern auch ein Reiter? Unser Freund Schneelocke ist in der Tat der kühnste Küchenjunge der Welt.«
Simon, peinlich berührt, machte ein finsteres Gesicht und fühlte, wie sich die Haut an seiner Wangennarbe zusammenzog. »So heiße ich nicht.«
Sludig lachte über seine Verlegenheit. »Und was gefällt dir daran nicht? ›Simon Schneelocke‹ ist ein echter Name und ehrenvoll errungen.«
»Wenn er dir missbehagt, Simon«, meinte Binabik gutmütig, »werden wir dich anders nennen. Aber Sludig sagt die Wahrheit, dein Name ist ehrenhaft. Jiriki aus dem höchsten Haus der Sithi war es, der ihn dir gab. Und die Sithi sehen klarer als die Sterblichen, zumindest in manchen Dingen. Wie ihre anderen Gaben soll man auch einen Namen nicht so leicht verschmähen. Erinnerst du dich, wie du den Weißen Pfeil über den Fluss hieltest?«
Und ob sich Simon erinnerte. Der Tag, an dem er in den strudelnden Aelfwent gefallen war, war trotz der vielen seltsamen Abenteuer, die er später noch erlebt hatte, in seinem Gedächtnis immer ein wunder Punkt geblieben. Natürlich war es sein alberner Stolz gewesen – die andere Seite seiner Mondkalbnatur –, der ihn in die wirbelnde Tiefe geschleudert hatte. Er hatte Miriamel zeigen wollen, wie wenig Wert er selbst auf die Geschenke der Sithi legte. Beim bloßen Gedanken an so viel Dummheit wurde ihm übel. Was war er doch für ein Esel! Wie durfte er jemals hoffen, Miriamel könnte etwas für ihn übrighaben?
»Ich erinnere mich«, antwortete er nur, aber die Freude des Augenblicks war dahin. Jeder konnte auf einem Pferd sitzen, sogar ein Mondkalb. Warum musste er sich auch so viel darauf einbilden, dass er eine längst kampferprobte Stute am Durchgehen gehindert hatte? »Du wolltest mir von den Neun Städten erzählen, Binabik«, sagte er traurig.
Der Troll hob die Brauen über Simons verzweifelten Unterton, verfolgte das Thema jedoch nicht weiter. Stattdessen ließ er Qantaqa anhalten.
»Dreht euch einen Augenblick um und schaut zurück«, forderte der Troll Simon und Sludig mit einer Handbewegung auf. Der Rimmersmann stieß einen Laut der Ungeduld aus, erfüllte Binabik jedoch den Wunsch.
Die Sonne hatte sich inzwischen aus der Umarmung des Berges gelöst. Ihre schrägen Strahlen loderten jetzt auf dem Antlitz des östlichsten Gipfels, bedeckten seine eisigen Wangen mit Feuer und warfen tiefe Schatten in die gefurchten Züge. Die gefangenen Türme, in der Dämmerung nur schwarze Striche, schienen in warmem, rötlichem Licht zu glühen, als rinne Blut durch die kalten Adern des Berges.
»Schaut es euch gut an«, mahnte Binabik. »Vielleicht wird keiner von uns diesen Anblick noch einmal erleben. Tumet’ai war ein Ort der höchsten Magie, so wie alle großen Städte der Sithi. Nie mehr wird etwas ans Licht treten, das ihnen gleicht.«
Der Troll holte tief Atem und fing plötzlich und überraschend laut zu singen an.
T’senéi mezu y’eru,
Iku’do saju-rhá,
O do’ini he-huru.
Tumet’ai! Zi’inu asuná!
Shemisayu nun’ai temuy’á …
Binabiks Stimme klang weit hinaus in den windstillen Morgen und verhallte ohne antwortendes Echo. »Das ist der Anfang des Liedes von Tumet’ais Untergang«, verkündete er feierlich. »Ein sehr altes Lied, von dem ich nur wenige Verse kenne. Der, den ich gesungen habe, lautet:
Türme aus Scharlach und Silber,
Herold des Taggestirns,
in kalte Schatten bist du versunken.
Tumet’ai! Halle der Morgendämmerung!
Als Erste beklagt und als Letzte vergessen …«
Der Troll schüttelte den Kopf. »Es bedeutet eine große Schwierigkeit für mich, Werke von Sithikunst in richtige Worte zu bringen, vor allem in einer Zunge, die nicht die meines Geburtsortes ist. Ihr könnt mir vergeben, hoffe ich.« Er grinste unzufrieden. »Ohnehin wurzeln die meisten Sithilieder in Gedanken an Verlorenes und alte Erinnerungen – wie soll da ein Mann meiner kurzen Jahre ihre Worte zum Singen bringen?«
Simon starrte auf die fast unsichtbaren Türme, zerfließende Striche im Gefängnis des Eises.
»Wohin gingen die Sithi, die dort wohnten?«, fragte er. Die klagenden Worte von Binabiks
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