Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
hatte Bischof Anodis alle Hände voll zu tun, eine so widerspenstige Herde in Zucht zu halten. Hengfisk würde nur zu glücklich sein, dem ehrwürdigen alten Mann dabei zu helfen, sich um diese Faulpelze zu kümmern. Aber zuerst ein Feuer und etwas Warmes im Leib. Und dann ein wenig Klosterdisziplin. Man würde das bald alles wieder in Ordnung bringen … Vorsichtig setzte Hengfisk die Füße zwischen die zersplitterten Pfosten und weißverschneiten Steine.
Eigentlich, fand der Mönch nach einer Weile, war es in gewisser Weise sogar … schön. Hinter dem Tor war alles mit einem zarten Netz aus Eis bedeckt, wie ein Schleier aus Spinnweben. Die sinkende Sonne schmückte die bereiften Türme und eisüberkrusteten Mauernmit Rinnsalen bleichen Feuers. Hier, inmitten der Festungsmauern, erklang das Schreien des Windes ein wenig leiser. Lange blieb Hengfisk stehen, betroffen von der unerwarteten Stille. Als die matte Sonne hinter die Wälle glitt, färbte sich das Eis dunkler. Aus den Ecken des Hofs quollen tiefe, violette Schatten und zogen sich quer über die zerstörten Türme. Der Wind fauchte nur noch sanft wie eine Katze, und der Mönch senkte den Kopf. Er begriff.
Verlassen. Naglimund war leer, keine Menschenseele war übriggeblieben, um einen vom Schnee verwirrten Wanderer zu begrüßen. Meilenweit war er durch die sturmgepeitschte weiße Öde gelaufen, nur um einen Ort zu finden, der tot und stumm war wie Stein.
Aber, fragte er sich plötzlich, wenn das stimmt … was sind das dann für blaue Lichter, die in den Turmfenstern flackern?
Und was waren das für Gestalten, die über den verwüsteten Hof auf ihn zukamen und so anmutig über die vereisten Steine glitten wie schwebender Distelflaum?
Sein Herz raste. Als er ihre schönen, kalten Gesichter und das fahle Haar sah, hielt Hengfisk sie zuerst für Engel. Dann bemerkte er das böse Glitzern in den schwarzen Augen und ihr Lächeln, und er drehte sich stolpernd um und versuchte zu fliehen.
Die Nornen fingen ihn ohne Mühe und schleppten ihn in die Tiefen der verlassenen Burg, hinab unter die schattendunklen, eisumhüllten Türme mit ihren unablässig flackernden Lichtern. Und als die neuen Herren von Naglimund ihm mit ihren melodischen, flüsterleisen Stimmen Worte ins Ohr wisperten, übertönten Hengfisks Schreie für eine Weile sogar das Heulen des Windes.
Erster Teil Sturmauge
1
Die Musik der Höhen
ogar im Inneren der Höhle, wo das knisternde Feuer graue Rauchfinger nach dem Loch in der Steindecke ausstreckte und wo rotes Licht auf den in die Wand gemeißelten, sich ringelnden Schlangen und starr vor sich hin blickenden Stoßzahntieren spielte, nagte die Kälte an Simons Knochen. Während er sich zwischen Nacht und verhangenem Tageslicht durch einen fiebernden, unruhigen Schlaf quälte, war ihm, als wachse in ihm graues Eis, das seine Glieder erstarren ließ und ihn mit Frost anfüllte. Er fragte sich, ob ihm wohl je wieder warm werden würde.
Auf der Flucht vor der kalten Yiqanuc-Höhle und seinem kranken Körper wanderte er auf der Straße der Träume, hilflos von einer Fantasie in die nächste gleitend. Oft war es ihm, als sei er auf den Hochhorst zurückgekehrt, die Burg, die einmal seine Heimat gewesen war und es nie wieder sein würde – ein Ort sonnenwarmer Rasenflächen, schattiger Winkel und Verstecke –, das größte Haus, das es gab, voller Leben und Farbe und Musik. Noch einmal schlenderte er durch den Heckengarten, und der Wind, der vor der Höhle sang, in der Simon schlief, sang auch in seinen Träumen, blies sacht durch das Laub und zupfte an den zierlichen Hecken.
Einer seiner wunderlichen Träume schien ihn in Doktor Morgenes’ Wohnung zurückzuführen. Die Studierstube des Doktors befand sich jetzt ganz oben in einem hohen Turm. An den hohen Fensterbögen schwammen Wolken vorüber. Der alte Mann beugte sich verdrossen über ein großes, offenes Buch. Es lag etwas Furchterregendes in der Zielstrebigkeit und Schweigsamkeit des Meisters. Simon schien für Morgenes gar nicht vorhanden zu sein; gebanntstarrte der alte Mann auf die unbeholfene Zeichnung dreier Schwerter, die sich über beide aufgeschlagenen Seiten zog.
Simon trat ans Fenstersims. Der Wind seufzte, obwohl keine Brise spürbar war. Simon schaute in den Hof. Von unten blickte mit großen ernsten Augen ein Kind zu ihm auf, ein kleines dunkelhaariges Mädchen. Es hob wie grüßend die Hand und war plötzlich verschwunden.
Der Turm und Morgenes’ vollgestopftes Zimmer
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