Der afrikanische Spiegel
Kinder?“
„Ja, eine Tochter. Sie nannte sie Atima Silencio. Aber die Kleine war eine Rebellin und konnte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden. Sie ging weg von hier. Wir wissen nicht, was aus ihr wurde.“
Raquel bat die Leute, den Namen des Mädchens zu wiederholen.
„Atima Silencio. So hieß sie. Warum ihre Mutter sie Atima nannte, ist klar, aber Silenci o …?“
Raquel kannte den Grund. Und mit den Erinnerungen kamen ihr die Tränen.
„Suchst du wieder nach deinem Namen? Mercedes, Leonor, Jacint a …“
„Nein, so hieß ich nicht.“
„Elvira, Rosaur a …“
„So auch nicht.“
„Ist dir dein richtiger Namen immer noch nicht eingefallen, Silencio?“
„Eines Tages wird er mir einfallen.“
Als Raquel die Fassung wiedererlangte, erzählte sie den Leuten, dass sie etwas für Atima Imaoma dabeihatte. Und weil sie es ihr nicht geben konnte, wollte sie es zu dem Grab bringen, in dem ihre Freundin ruhte.
„Ist es weit von hier?“
„Nicht weit, gnädige Frau, aber auch nicht nah. Ihr Grab liegt an der nördlichen Grenze des Landguts, in der Nähe des Flusses. Dort durften wir einen Friedhof für uns anlegen.“
„Dann mache ich mich gleich auf den Weg dorthin.“
„Wir können Sie begleiten, wenn Sie es wünschen, gnädige Frau.“
Raquel schüttelte den Kopf, denn sie wollte lieber alleine hingehen. Sie bedankte sich, stieg in die Kutsche und fuhr los.
Alle winkten ihr lächelnd hinterher, die Frauen mit den Händen und die Männer mit ihren Strohhüten.
Die Kutsche holperte über einen schmalen Weg voller Schlaglöcher. Die Nachmittagssonne brannte herab. Ein Stück vor dem Friedhof bat Raquel den Kutscher anzuhalten und auf sie zu warten. Sie wollte die Ruhe der Toten nicht stören.
„Aber, gnädige Frau, möchten Sie bei dieser Hitze wirklich zu Fuß gehen?“, fragte der Kutscher. „Es ist doch nur ein Negerfriedho f …“
Raquels Gesichtsausdruck ließ ihn verstummen. Er senkte den Kopf und murmelte eine Entschuldigung.
Sie lief zwischen einfachen Gräbern hindurch. Die Kreuze darauf bestanden aus zwei zusammengebundenen Stöcken. Die Namen waren grob und unregelmäßig ins Holz geschnitzt. Raquel las alle, bis sie den gesuchten fand.
Atima Imaoma.
Sie blieb stehen und setzte sich auf einen großen Stein neben dem Grab.
„Du bist mir bestimmt böse, weil ich mein Versprechen nicht erfüllt habe. Ich könnte dir erklären, warum. Es ist einiges geschehen, was mich daran gehindert hat. Ich habe geheiratet und zwei Söhne bekommen. Und du? Eine rebellische Tochter, wie man mir sagte. Nun, du sollst wissen, dass ich hergekommen bin, um nach dir zu suchen. Und um dir etwas zu geben, was dir gehört. Schau! Ich habe den Spiegel dabei, der dir deinen Namen verriet. Jemand hat hinten etwas ins Holz geritzt. Ich weiß nicht, welcher Banause das war. Jedenfalls ist es dein Spiegel. Dein kleiner Spiegel mit dem Ebenholzrahmen. Du hast ihn immer mit dir herumgetragen, weißt du noch?“
Raquel verfiel in ein langes Schweigen. Dann erzählte sie, was sie bedrückte: „Ich habe Angst. Und manchmal fühle ich mich sehr einsam. Ich habe mein Klavier und Sklaven, die mich voller Groll beobachten. Sie sind anders als du, denn du hast mich geliebt, nicht wahr? Meine Söhne sind weit weg. Sie sind wie ihr Vater: überheblich und ständig mit Dingen beschäftigt, von denen ich nichts verstehe. Du wärst in dieser schweren Zeit bei mir geblieben. Der Arzt sagt, mit der nötigen Unterstützung werde ich das Leben schon meister n …“
Raquel hörte Schritte hinter sich. Sie seufzte verärgert. Dann sagte sie, während sie sich umdrehte: „Ich hatte Sie doch gebeten, mich nicht zu stören.“
Aber es war nicht der Kutscher, der hinter ihr stand, sondern eine junge Schwarze. Raquel erbleichte.
„Atima Imaoma?“, fragte sie stotternd.
„Atima Silencio“, antwortete das Mädchen.
Als die Sonne sank, waren die zwei Frauen immer noch in ihr Gespräch vertieft. Der Kutscher war mehrmals eingenickt und wieder aufgewacht und schließlich zum Friedhof gelaufen, um sich zu vergewissern, dass es Raquel gut ging.
Es gab viel zu erzählen, viel zu fragen und zu beantworten. Allmählich wurde es dunkel.
„Atima Silencio, willst du mir verraten, warum du zurückgekommen bist?“
„Der Gutsherr hatte Recht. Für unsereins ist die Freiheit sehr hart. Und ich bin müde.“
Raquel nahm das Gesicht des Mädchens in die Hände.
„Ja, sie ist hart“, sagte sie nachdenklich. Plötzlich
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