Der afrikanische Spiegel
härter. Die Nacht brach herein. Das Leben wurde noch härter.
Irgendwo bellten Hunde. Und der leere Magen von Atima Silencio knurrte laut.
In den von Öllampen erleuchteten Häusern wurde um diese Zeit zu Abend gegessen. Es war leicht, sich die vollen Töpfe und die reich gedeckten Tische vorzustellen. Sie waren so nah und doch so fern.
Wie hart das Leben sein konnte!
Atima Silencio klopfte an Türen und fragte nach einer Arbeit, um sich eine Mahlzeit zu verdienen. Die Antworten, die sie erhielt, waren unfreundlich und feindselig.
„Was willst du zu so später Stunde?“
„Hier gibt es nichts! Gar nichts!“
„Ich will dich hier nie mehr sehen! Kapiert?“
Ta m …
Tam, tam.
Ta m …
Tam, tam.
Sie schöpfte Hoffnung, als der Hausherr einer stattlichen Villa an die vergitterte Tür kam und sie freundlich fragte: „Brauchst du Hilfe?“
„Ja, Señor. Ich habe Hunger. Und ich kann für eine Mahlzeit arbeiten.“
Der Mann kniff die Augen zusammen.
„Du bist eine freigelassene Sklavin, stimmt’s?“
„Ja, Señor.“
Die Miene des Mannes veränderte sich, aber er blieb höflich.
„Dann sieh zu, wie du mit deiner Freiheit zurechtkommst. Du wolltest sie, und jetzt hast du sie. Das ist die Freiheit. Füll dir den Bauch mit deiner Freiheit und wärme dich an ihr.“
Atima Silencio lief weiter die gepflasterte Straße entlang. Eine ihrer Tränen lebte ein bisschen länger, weil sie an ihrem ausgetrockneten und wunden Mund hängen blieb.
Sie kam zu einer weiteren großen Villa. Vielleicht wurde dort eine Hilfskraft gebraucht. Viele Fenster waren erleuchtet. Sie fasste sich ein Herz und klingelte. Dann faltete sie die Hände und betete, dass sie diesmal Glück haben würde.
Die Antwort auf ihr Klingeln näherte sich auf vier Pfoten aus dem parkähnlichen Garten. Zwei dunkle Hunde sprangen wie wild gegen das Gittertor, sodass Atima Silencio erschrocken zurückwich. Sofort schlugen auch die Hunde aus der Nachbarschaft an, und im nächsten Augenblick erfüllte wütendes Gebell die ganze Straße.
Eine Gestalt erschien an einem Fenster im oberen Stockwerk, verharrte dort eine Weile und verschwand wieder.
Atima Silencio war am Ende ihrer Kräfte. Sie musste ständig an die Worte denken, mit denen der Gutsherr sie in die Freiheit entlassen hatte.
„Hör gut zu, was ich dir jetzt sage: Du wirst bald reumütig umkehren! Wie stellst du dir die Freiheit vor, du Närrin? Geh nur! Du wirst bald zurückkommen und mich anflehen, dich wieder aufzunehmen.“
Der Gutsherr hatte Recht. Die Freiheit war hart und bitter.
Bitte, lieber Gott, führ mich zurück zu dem Landgut, dachte Atima Silencio.
Es heißt, dass …
Es heißt, dass jeder Mensch eine Begabung hat, auch wenn sie manchmal tief im Verborgenen schlummert.
Manche Menschen können oder wollen nicht erkennen, welches Talent in ihnen steckt. Einige entdecken es erst auf Umwegen, nachdem sie alles Mögliche ausprobiert haben. Bei anderen zeigt es sich dagegen sehr früh.
Dorel war ein typisches Beispiel dafür. Das Leben schien es nicht allzu gut mit ihm zu meinen. Er wurde als kleines Kind zum Waisen, war kränklich, unscheinbar und mittellos. Und zu allem Übel wuchs er bei einer verschrobenen Antiquitätenhändlerin auf, deren düsteres Haus er bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr nie verlassen hatte.
Er war ein einsamer Junge, der sich sogar vor den Vögeln fürchtete, die sich im Frühling vor den hohen Fenstern niederließen.
Aber es heißt auch, dass das Schicksal jedem seinen Weg weist, wenn er ihn zu gehen wagt.
Und als Dorel sich endlich aus dem Haus wagte, führte das Schicksal ihn zur nächsten Ecke, auf den Hauptplatz, zur Brücke, zum Hafen, ins Kloster und zu der Geige.
Seine außergewöhnliche Begabung und sein glühender Eifer trugen schon nach wenigen Jahren Früchte.
KAPITEL 8
Spanien, ein Theater in Madrid
Im Jahr 1822
Eine Frau ließ sich auf einem guten Platz vor der Bühne nieder und zog die Handschuhe aus. Es war ihr letzter Abend in Madrid, und sie hatte beschlossen, ein Konzert zu besuchen. Im Theater sollte ein bekanntes Orchester der Stadt spielen. Außerdem sollte dort ein junger und sehr begabter Geiger auftreten.
Das Abendkleid der Frau war von schlichter Eleganz. Nur ihr Cape hätte Aufmerksamkeit erregen können, weil es für den spanischen Frühling viel zu warm war.
Immer mehr Leute strömten herein, suchten ihre Plätze und setzten sich. Während die Frau auf den Beginn der Veranstaltung wartete, spielte
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