Der afrikanische Spiegel
sehen muss, tötend oder sterbend. Er weiß nicht, ob er zurückkommen wird. Manchmal versteckt er seine Angst hinter einer Maske aus Spott oder Überheblichkeit.
„Komm zu uns herüber und koste die Suppe“, sagte der Unteroffizier, der zuerst gesprochen hatte.
„Ich möchte lieber gehen.“
„Aber ich will, dass du die Suppe probierst, du dreckiger Bauer!“ Der Königstreue schlug wütend mit der Faust auf den Tisch.
Der Kurier wollte nur eines: so schnell wie möglich zum Lager galoppieren, um die Befreiungsarmee zu warnen. Deshalb beschloss er, widerspruchslos zu gehorchen, auch wenn er dann vor den Soldaten wie ein Feigling dastand.
„Wenn Sie mich darum bitten.“
Er beugte sich über ihren Tisch und griff nach einer Suppentasse, aber bevor er den Befehl befolgen konnte, sah ein Soldat den Spiegel, den er an einer Schnur um den Hals hängen hatte.
„Schaut mal, der Kerl trägt Frauenkram mit sich herum!“
Die anderen lachten schallend.
„Findest du dein Gesicht so schön?“
Der Unteroffizier hielt den Spiegel fest, sodass der Kurier sich nicht bewegen konnte. Dann durchschnitt er mit einem Ruck die Schnur.
Er betrachtete den Spiegel und drehte ihn um.
Plötzlich änderte sich seine Miene.
In einem härteren Ton sagte er: „Ich kenne dieses Zeichen. Das war das Erkennungszeichen einer Gruppe, die militärische Nachrichten nach Chile schmuggelte. Unter den Männern war ein Indio, der uns als Informant diente.“
Der königstreue Unteroffizier erhob sich. Da standen auch die anderen auf.
Der Kurier versuchte, den Verdacht zu zerstreuen. „Ich weiß nicht, ob Sie mit den Kratzern Recht haben, aber wegen ihnen bekam ich den Spiegel zu einem günstigen Preis. Ich will ihn meiner Frau mitbringen, damit sie mir die Verspätung verzeiht.“
Einige Soldaten schienen ihm zu glauben, aber nicht alle.
„Deine Frau wird noch etwas länger warten müssen. Du kommst mit uns ins Hauptquartier, damit General Ordóñez sich dein Spiegelchen anschauen kann. Mal sehen, ob du die Wahrheit sagst!“
„Ich bitte Sie, Herr Unteroffizie r …“
„Du kommst mit!“
Der Unteroffizier behielt den Spiegel. Damit war alles gesagt.
Die Königstreuen holten ihre Jacken und Mützen und sogar ein paar Waffen, die sie in der Nähe aufgehängt hatten.
Der Kurier der Befreiungsarmee suchte nach einem Ausweg. Er musste die Unachtsamkeit der Königstreuen nutzen, um aus dem Gasthaus zu fliehen. Die hereinbrechende Dunkelheit würde ihm helfen. Er würde zu seinem Pferd laufen, das ganz in der Nähe angebunden war, und davonpreschen. Die Soldaten würden nicht schnell genug reagieren. Bis sie herauskamen, wäre er schon weit weg, außer Reichweite ihrer Kugeln.
Der Kurier handelte fast automatisch, noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen. Mit einem Spurt floh er aus dem Gasthaus. Draußen war es fast dunkel. Er rannte zu seinem Pferd, band es los und saß auf. Aber weiter kam er nicht.
Zwei Schüsse trafen ihn, und ihm wurde schwarz vor Augen.
In jener traurigen Nacht löste ein Überraschungsangriff in der Ebene von Cancha Rayada wilde Panik aus und forderte viele Opfer.
Wer behauptet, dass …
Wer behauptet, dass Dinge nicht sprechen können?
Sie können es und sie tun es. Sie sprechen durch ihre winzigen Risse, durch die abgenutzten Stellen, durch die verblassten Farben.
Sie erzählen ihre Geschichten, als wären sie alte Landkarten, die nur Experten entziffern können.
Archäologen wissen da s – und Dichter auch.
Der kleine Ebenholzspiegel aus Afrika, den Imaoma einst als Hochzeitsgeschenk für Atima geschnitzt hatte, hatte viel zu erzählen.
KAPITEL 7
Provinz Mendoza
Im Jahr 1821
Nach dem Aufbruch der Befreiungsarmee in Richtung Chile begannen für Atima Silencio schwere Jahre. Sie fand nur anstrengende Gelegenheitsarbeiten, die ihre Gesundheit angriffen, und ihr Lohn reichte bestenfalls für das Essen und einen Schlafplatz in einer Gemeinschaftsunterkunft.
Sie erfuhr von der Niederlage der Befreiungsarmee in der Ebene von Cancha Rayada. Und später freute sie sich über ihre Siege. Aber diese Siege verbesserten ihre Lage in keiner Hinsicht. Für Atima Silencio lag die Freiheit noch in weiter Ferne.
Zuletzt hatte sie in einer Gerberei gearbeitet, wo sie während der Jagdsaison Häute entfleischt hatte. Doch das war schon ein paar Wochen her. Jetzt wanderte sie wieder durch die Stadt, ohne Geld und ohne Zuflucht, unter einem bedrohlichen Himmel.
Es war Winter. Das Leben wurde
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