Der afrikanische Spiegel
leuchteten ihre Augen, als wäre ihr eine großartige Idee gekommen. „Vor vielen Jahren war deine Mutter meine Zofe. Wenn du einverstanden bist, könntest du ihren Platz einnehmen. Du würdest bei mir im großen Haus wohnen. Und ich würde dir einen kleinen Lohn zahlen, da du ja frei bist.“
Atima Silencio strahlte wie der Mond.
Raquel wandte sich dem Kreuz zu, das dem Grab einen Namen gab. „Wenn du gestattest, nehme ich Atima Silencio mit zu mir nach Hause.“
Es war Zeit zu gehen. Raquel erinnerte sich an den Spiegel, der sie hergeführt hatte.
Wie sie dem jungen Geiger versichert hatte, war sein Opfer nicht sinnlos.
Sie überreichte den Spiegel Atima Silencio.
Kurz darauf saßen die beiden einander gegenüber in der Kutsche und unterhielten sich weiter.
„Bist du sicher, dass General San Martín ihn höchstpersönlich markierte?“
„Ja, Señora, ganz sicher.“
„Bitte erzähl mir die ganze Geschichte.“
Der nächtliche Sternenhimmel erinnerte an die Unermesslichkeit der Freiheit.
Die Kutsche fuhr mit Rückenwind heimwärts.
Auch der kleine …
Auch der kleine Ebenholzspiegel reiste langsam der Freiheit entgegen. Denn Spiegel bilden die Geschichte ihrer Zeit ab. Manchmal nur verzerrt, in die Länge oder in die Breite gezogen, als wäre ihr Glas verbogen.
Er kam weit herum und spiegelte unterwegs vieles wider. Von den Trommeln eines Dorfes, das seine ganz eigene Landkarte hatte, zu einem Sklavenmarkt am Rio de la Plata. Vom Niedergang eines Gutsbesitzers zu bestimmten Wörtern, die spiegelverkehrt einen Namen ergaben. Von einer missglückten Flucht zu einer Armee im Krieg. Von der Ebene Cancha Rayada zu einem Theater in Madrid. Von Madrid zu einer kranken Dame.
Ta m …
Tam, tam.
Ta m …
Tam, tam.
Der kaum handtellergroße Spiegel mit dem glänzenden Ebenholzrahmen und der Markierung auf der Rückseite, den einst ein afrikanischer Jäger mit Liebe und Geduld für seine Braut geschnitzt hatte, wird seine abenteuerliche Reise über ferne Märkte, Museen, Truhen und Schiffbrüche fortsetzen.
Derselbe Spiegel, der in einem Antiquitätengeschäft landete und die Furcht vor Maria Petras Hirngespinsten auf dem Gesicht eines schüchternen Jungen sah. Der zusammen mit einer Meistergeige von Theater zu Theater reiste und die Augen einer verliebten Anisbrötchenverkäuferin widerspiegelte.
Der Spiegel, der Atima Silencio begleitete und dabei war, als sie ihren erstgeborenen Sohn José Imaoma nannt e – nach dem General der Befreiungsarmee und nach ihrem afrikanischen Großvate r –, um durch diesen Namen die beiden Ufer ihres Lebens zu verbinden.
Der Spiegel wird auf seinen Wegen ein Schicksal nach dem andern abbilden. Oder müsste man sagen: Die Wege des Schicksals führen von einem Spiegel zum andern?
Autoreninformation
© Ediciones SM-Argentina/Foto: Fernando Calzada
Liliana Bodoc wurde 1958 in Santa Fe, Argentinien, geboren und wuchs von ihrem fünften Lebensjahr an in Mendoza auf. Sie studierte moderne Literatur an der Universität von Cuyo und lehrte dort später als Dozentin. Ihre Bücher für Kinder und Erwachsene erhielten zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Zurzeit lebt die Autorin in Buenos Aires.
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