Der afrikanische Spiegel
Rechnen und Schreiben beibrachte, blieb keinen Tag leer.
Das Leben war frei von Sorgen. So schien es zumindest.
Manchmal nahm Silencio ihren Spiegel heraus, schaute hinein und versuchte sich an ihren Namen zu erinnern.
Josefina, Alma, Anit a …
Nein, so hieß sie nicht.
Aurelia, Magdalen a …
Nein, so auch nicht.
Es war ein heißer Nachmittag im Dezember 1791, in der Stadt am Rio de la Plata.
Das Ehepaar Fontezo y Cabrera ließ Raquel rufen, um mit ihr über etwas Wichtiges zu reden. Das wäre nichts Besonderes gewesen. Ihre Eltern waren stets bemüht, sie durch Belehrungen und Ermahnungen, die sie mit Fabeln und Versen veranschaulichten, vor Fehlern zu bewahren. Aber diesmal schien es um etwas anderes zu gehen.
Raquel hatte keine Ahnung, was sie gleich hören würde, denn niemand hatte ihr gesagt, dass sich die wirtschaftliche Lage ihrer Familie dramatisch verschlechtert hatte und ihr Vater kurz vor dem Ruin stand.
„Weißt du, mein Kind, zurzeit steht es hier nicht zum Besten“, begann Señor Fontezo y Cabrera.
Seine Frau blickte nicht auf. Unaufhörlich verzierte sie die Säume einer Leinentischdecke mit grünen und blauen Stichen.
„Ich habe versucht, es nicht so weit kommen zu lassen, doch gewisse traurige Veränderungen lassen sich nicht länger aufschieben“, fuhr Raquels Vater fort. „Diese Entscheidungen sind mir schwergefallen. Sehr schwer, glaub mir.“
Da stach seine Frau sich mit der Nadel in den Finger. Ein Stich in dem Blumenstrauß, den sie stickte, färbte sich rot.
„Wir müssen Geld aufbringen. Deshalb werden wir uns von ein paar wertvollen Besitztümern trennen. Von Schmuckstücken deiner Mutter, von den Rassepferde n …“
Die Blumen auf der Leinentischdecke welkten, kaum dass sie gestickt waren. Vielleicht beschloss Señor Fontezo y Cabrera deshalb, alles auf einmal zu sagen. Und in einem Ton, der Proteste im Keim erstickte.
„ … sowie von einigen unserer Sklaven. Silencio ist eine Dienerin von großem Wert. Sie ist jung und gesund und hat einen guten Charakter, sodas s …“
Raquel hatte verstanden.
„Wieso verkaufst du nicht eine unserer Köchinnen?“, fragte sie. „Du sagst doch immer, sie seien so gut, dass deine Freunde dich um sie beneide n …“
„Sie haben Silencio für ein Landgut in der Provinz Mendoza gekauft.“
Jetzt gab es nichts mehr zu sagen.
Jeder wusste, was Sklaven auf einem Landgut erwartete: endlose Arbeitstage in der prallen Sonne, Peitschenhiebe für die Schwachen, qualvolle Nächte, Insektenstiche, übel schmeckendes Wasser.
Und die Trommeln klagten wieder.
Ta m …
Tam, tam.
Ta m …
Tam, tam.
Raquel begriff, dass es unter diesen Umständen nichts genützt hätte, ihren Vater anzuflehen oder zu bedrängen. Außerdem weckten seine Worte bei ihr weitere Befürchtungen.
„Aber mein Klavier bleibt hier?“
„Natürlich, Raquel. Dein Klavier bleibt hier.“
Damit war das Gespräch für Señor Fontezo y Cabrera beendet.
„Geh und sag Silencio, dass sie ihre Sachen packen soll. Sie wird morgen abgeholt.“
Señora Fontezo y Cabrera stickte weiter tote Blumen.
Silencio besaß nur wenige Sachen. Und sie wollte nicht einmal alle mitnehmen.
Sie packte ein Bündel Kleidung zusammen. Dann hängte sie sich ihren Spiegel um und ging in die Scheune, in der sie die Buchstaben und Zahlen gelernt hatte. Dort wollte sie die letzte Nacht verbringen und auf ihre neuen Herren warten.
Auf der großen Tafel, die an der Wand lehnte, stand noch ein Übungssatz zum Buchstaben M.
Silencio hielt sich den kleinen Spiegel mit dem Ebenholzrahmen vors Gesicht. Dann bewegte sie ihn ganz langsam, sodass er den Ort widerspiegelte, an dem sie glücklich gewesen war: die hohen Fenster, das Dachgebälk aus dunklem Holz, die Strohballen, den Heuboden, ein vergessenes Tintenfass.
Der Spiegel zeigte ihr auch die Tafel mit dem spanischen Satz, den sie zwei Tage zuvor selbst hingeschrieben hatte: AMO A MI AMITA. Ich liebe meine kleine Herrin.
Aber wie alle Spiegel zeigte er die Welt seitenverkehrt.
Deshalb las Silencio in dem kleinen Andenken, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte, bevor sie für immer von ihr fortgerissen worden war: ATIMA IM A OMA.
Ta m …
Tam, tam.
Ta m …
Tam, tam.
Oft erkennt man die Wahrheit erst, wenn man die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachtet, hätten die Trommeln sagen können.
Am nächsten Tag wunderte Raquel sich, dass Silencio keine Tränen in den Augen hatte, und fragte sie warum.
„Weil ich nun zwölf
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