Der Alchimist von Krumau
verzweifelt versuchte er sich in jenen Park zu versetzen, und auf einmal war er wahrhaftig wieder dort.
Dämmerung – ein Morgen vor vielen Jahren wohl, denn auch sich selbst sah er wieder vor sich, wie er über jene Wiese lief: ein Kind noch, verängstigt und allenfalls zehn Jahre alt. Der Anblick des Kleinen rührte Flor fast zu Tränen, und das zärtliche Gefühl bewies doch, dass er endlich auf der rechten Spur war – oder etwa nicht? Dieser Knabe dort bin ich, dachte er, vor acht oder zehn Jahren, ich, ich, niemand sonst.
Der Junge trug nur ein paar Stofffetzen am mageren Körper. Hinter Bäumen, im Unterholz Deckung suchend, schlich er durch den morgengrauen Park. Im Laufen sah er über die Schulter zurück, sodass Flor mit seinen Augen nach hinten spähen konnte, und da erkannte er auch wieder die Lumpengesellen, die ihn, verteilt über die breite Wiese, mit taumelnden Schritten verfolgten. Aber zu welchem Zweck? Versuchten sie tatsächlich, ihn einzufangen, aus dem Park zu verschleppen, hinter dessen Ästen schon die hellen Gutsmauern sichtbar wurden?
Es musste das Anwesen seiner Eltern sein, das Haus, in dem er aufgewachsen war, zumindest hatte Flor das bisher geglaubt. Doch auf einmal verspürte er Zweifel. Sie jagten ihn ja nicht, dachte er, sie trotteten nur hinter ihm her, als wollten sie ihn nicht fangen, sondern im Gegenteil auf das Haus zutreiben!
Aber weshalb um Himmels willen sollten sie das tun?
In den letzten Stunden waren verschiedene Erinnerungen in ihm wach geworden – er kommt in einem hellen Zimmer zu sich, im Bett liegend, neben einem alten Weib, das im Schlaf seine Hand hält; er eilt in einer herrschaftlichen Halle auf einen grauhaarigen Herrn zu und ruft Vater! Vater!, während der edel Gewandete ihm mit mattem Lächeln entgegensieht; er kniet an einem Grab, das mit Efeu überwachsen ist, und darin liegt die Mutter, vor langen Jahren verstorben …
Bestürzende, kummervolle Erinnerungen! Wie sehr hatte Flor sich gleichwohl gefreut – und mit ihm Markéta –, da seine Erinnerung sich zu öffnen, die Leere in seinem Innern sich mit Vergangenheit zu füllen schien. Nun aber war ihm, als ob diesen Erinnerungen, die ihm auf einmal so bereitwillig zuströmten, keineswegs zu trauen sei. Als ob sie nicht ganz wirklich wären, dachte Flor, gekünstelt oder gefälscht.
Und wenn alles genau anders herum war?, schoss es ihm durch den Sinn: lügenhaft erdacht nicht seine Erschaffung im Labor, sondern sein Leben draußen, seine Kinderjahre im Park, das Muttergrab, der Vater im Gutshaus?
Eine Weile grübelte er noch darüber nach, aber der Gedanke verstörte ihn so sehr, dass es ihn schließlich drängte, in die Gegenwart zurückzukehren. Er schlug die Augen auf, und neben ihm saß Markéta und lächelte ihn an.
»Ta-tausend Bilder in mir, Markéta«, sagte Flor. »Von Mutter und Vater, La-lachen und Singen, vom Spazieren unter herbstbunten Bäumen, tausend Bilder und dahinter – nichts. Wenn ich aber die Hahalle in Gedanken nur ganz leicht anrühr…«, fröstelnd zog Flor das Leinenhemd um sich, das Lisetta für ihn besorgt hatte, ein muffig riechendes Gewand, das auf der Brust mit einem gewaltigen Wappen verziert war, »… den alten Drach’, die schwarze Nacht, Ma-markéta – dann spür ich ein Entsetzen, einen Schmerz, so arg, als wenn man sich an einer frischen Wunde stößt …«
Unverwandt lächelte sie ihn an. »Nur ruhig, lieber Flor. Deine Erinnerung wird zurückkehren, warte nur. So wie deine Sprache, schau doch – du stotterst ja kaum mehr, Flor!«
Eingehüllt in ihr Lächeln wie in eine warme, weiche Decke, schloss er abermals die Augen und kehrte in die Nebelwelt seiner Erinnerung zurück.
32
»Vierspännige Kutschen, Herr Obersthofmeister«, verkündete Vladislav Kollek, die Hacken zusammenschlagend, »alle fünf bis unters Dach beladen.«
D’Alembert zückte sein weißes Seidentuch und tupfte sich über die Stirn. Kaum war er in sein Appartement zurückgekehrt, um sich ein wenig von den Strapazen dieses Vormittags zu erholen, da hatte sein Sekretär Pavel auch schon den Gardisten gemeldet. »Und ihr habt sie eingelassen?«, fragte er, auf seine blendend weiße Hirschledercouch sinkend.
»Die Kutscher hatten Passierscheine, ausgestellt von Graf Julius.«
»Wer hält mit dir Wache am Tor?«
»Mikesch Slatava, Herr Obersthofmeister.«
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte d’Alembert und setzte ein heiteres Lächeln auf. »Ausgezeichnet,
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