Der Algebraist
was damals geschehen war. Sie hatte nur einen Verdacht.
Es war trotz allem möglich, dass sie sich einfach getäuscht
hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand das Gesetz
selbst in die Hand genommen hätte und hinterher von den Fakten
unbarmherzig widerlegt worden wäre. Verdammt, das war doch Sinn
und Zweck der Justiz, deshalb hatte man Gesetze und alles, was
dazugehörte, es war eines der Dinge, die eine Gesellschaft zu
einer Gesellschaft machten.
Dennoch. Sie wusste es. Sie war ganz sicher. Seine Zeit war
abgelaufen. Selbst wenn sie sich irrte, Sal hätte sein Leben
gelebt. Es war nicht so, als würde sie ein Kind töten oder
eine junge Frau, die noch alles vor sich hatte. Es war und blieb
Mord, es war ein Verbrechen, aber alles hatte seine Graustufen, sogar
die Hölle hatte verschiedene Kreise. Und – ob Recht oder
Unrecht – sie zumindest würde es nie erfahren.
Denn auch ihre Zeit war abgelaufen. Das wusste sie.
Sie hatte wirklich geglaubt, dass ihr die Tränen kommen
würden, aber ihre Augen blieben trocken. Seltsam, dass man auch
nach so langer Zeit, so kurz vor dem Ende noch immer nicht wusste,
wie man in solchen Extremsituationen reagierte.
Was blieb noch zu tun? Sie hatte überlegt, es ihm zu sagen,
ihn mit seiner Tat zu konfrontieren, alles noch einmal auf den Tisch
zu bringen, zu hören, wie er tobte, um Gnade flehte oder sie
anschrie. Sie hatte die Szene oft und oft durchgespielt, hatte sie im
Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte unzählige Male vor
sich ablaufen lassen. Sie hatte ihre und seine Rolle übernommen
und sich genauestens zurechtgelegt, was er sagen könnte, wie er
versuchen würde, sein Verhalten zu erklären, wie er
unterstellen würde, sie sei verrückt oder hätte sich
geirrt.
Und nun hatte sie einfach keine Lust mehr. Sie hatte schon alles
gehört. Es gab nichts mehr zu sagen.
Sie verurteilte einen Menschen auf Grund eines Indizienbeweises,
auf Grund eines Verdachtes zum Tode. Sie müsste ihm die Chance
geben, sich zu rechtfertigen. Sie müsste ihn zumindest wissen
lassen, was sie mit ihm vorhatte.
Aber wozu?
Im kalten Licht der Sterne rasten sie auf die Wüste, auf das
riesige schwarze, so massive Schiffswrack zu.
»Verdammt, Tain…!«
Sal hätte versuchen können, den Schleudersitz
auszulösen – das einzige System, das sie mit ihrer
Steuerung nicht deaktivieren konnte – deshalb war sie das letzte
Stück kopfüber geflogen.
Am Ende genügte ein einziges kurzes Zucken mit den
Handgelenken.
Dann krachte der Kutter etwa mit halber Schallgeschwindigkeit nur
zehn Meter über dem Wüstenboden in die Flanke des
Schiffes.
Epilog
In den höheren Breiten der Nördlichen Tropischen
Hochebene auf dem Planetenmond ’glantine im Ulubis-System trifft
man einen Vogel, der wegen seines Rufs der ›He-Mann-He‹
genannt wird. Der Vogel ist ein Wanderer, ein Zugvogel; das
heißt, er lebt nicht ständig in einer Region, sondern
zieht von Ort zu Ort. Zu Frühlingsbeginn zieht der He-Mann-He
durch unsere Breiten nach Norden.
Es war ein kühler Tag, kurz vor Mittag. Nasqueron war halb
voll und warf seinen rötlich braunen Schein über die
weichen Schatten. Früher wären auf der einen oder anderen
Seite des Gasriesen große Spiegel zu sehen gewesen, die das
Sonnenlicht zu uns lenkten, auch wenn Nasqueron den Himmel fast ganz
ausfüllte. Aber im Krieg wurden viele dieser Anlagen
zerstört, und so ist es auf unserem kleinen Planetenmond im
wahrsten Sinne des Wortes dunkler als früher, und er ist, bis
neue Spiegel installiert werden können, in seinen Urzustand
zurückgefallen.
Ich arbeitete auf der ehemaligen Parkweide und steckte tief in
einem lästigen Chuvle-Gestrüpp, das einen – inzwischen
– fast schon verschwundenen Teich überwuchert hatte. Gerade
als ich mir überlegte, was ich mit den Sträuchern und dem
Teich anstellen wollte (denn beide sind auf ihre Weise reizvoll),
vernahm ich den unverwechselbaren Ruf des oben erwähnten Vogels.
Ich hielt inne und lauschte.
»He-Mann-he-Mann-he-Mann-he!«, sang der Vogel. Ich
drehte mich langsam um und suchte die höheren Äste der
Bäume nach ihm ab.
Während ich mich noch umsah – finden sollte ich den
Vogel nicht –, bemerkte ich auf dem Hauptpfad eine Gestalt auf
dem Weg zum Bach und der Grenzmauer, die am Hang, etwas unterhalb der
Ruine des alten Rehliden-Tempels endet.
Ich sah genauer hin, fokussierte und bemühte mich, die
Büsche und Sträucher dazwischen auszufiltern. Die Gestalt
bewegte
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