Der Allesforscher: Roman (German Edition)
laut. »Tränen sind unfair.«
Ich redete mehr zu mir selbst. Doch Kerstin kam herüber und meinte: »Meine Güte, kauf ihm doch die Skibrille. Oder soll ich?«
»Es geht doch nicht ums Geld. Er soll einfach nicht alles kriegen, was er will. Und dann auch noch die Heulerei als Druckmittel einsetzen.«
»Er heult nicht«, sagte Kerstin. »Er weint. Und zwar ziemlich zurückhaltend, finde ich.«
Ich haßte nicht nur Tränen, sondern auch die Toleranz jener, die im speziellen Fall keine Verantwortung trugen. Die mit den Kindern nie zum Zahnarzt mußten, aber ständig meinten, es würde doch auf das eine oder andere Bonbon nicht ankommen. Nun, es kommt auf den einen oder anderen Müllberg auch nicht an, aber die Müllberge zusammen sind dann doch ein Problem. Genau das sagte ich zu Kerstin.
»Na, ein Bonbon kann man vielleicht mit einem Müllberg vergleichen«, gab sie zurück. »Aber eine Skibrille ist doch etwas anderes. In erster Linie nützlich. Und vielleicht hat Simon einen guten Grund, sich genau die zu wünschen.«
»Jetzt im Sommer?«
»Jetzt im Sommer. Möglicherweise weiß er was, was wir nicht wissen.«
Ich gab auf. Ich sagte: »Okay.«
Sofort kehrte ein Lächeln in Simons Gesicht ein. Die Träne war nur noch ein Schimmer von blassem Silber.
Was ich folgendermaßen kommentierte: »Also, das Wort okay versteht er ganz gut, mein kleiner Sohn.«
»Komm, das hätte jetzt sogar ein Marsianer verstanden«, fand Kerstin. »Wie du zuerst seufzt und leidest und dich windest und dann halt mit der Schulter zuckst und nachgibst.«
»Was willst du mir eigentlich sagen, Kerstin?« fragte ich.
»Weiß nicht … vielleicht, wie sehr ich es mag, wenn du kapitulierst. Wenn du weich wirst.«
Ich schnaufte und grinste und vollzog eine ironische Körperbewegung, die das Wort »weich« illustrierte.
Einen Tag vor der geplanten Fahrt nach Tirol ging ich mittags mit Simon zum Italiener. Er liebte Spaghetti, nicht allein den Geschmack, sondern auch das Ritual des abenteuerlichen Verzehrs: der Länge der Nudeln Herr zu werden.
Wir waren ohne Kerstin, die sich mit einer Freundin traf oder mit einem Freund, mit jemandem aus Schultagen, der jetzt in Stuttgart lebte, wie sie mir sagte. Aber nicht, um wen es sich handelte und ob die Beziehung zu dieser Person über das gemeinsame Lernen und gemeinsame Schummeln hinausgegangen war. Ein kleiner Stich von Eifersucht plagte mich. Wieso auch diese Heimlichtuerei?
Wir nahmen an dem Ecktisch des kleinen Restaurants Platz und wurden vom Patron persönlich begrüßt. Ich kannte das Lokal seit den Tagen, als ich nach Stuttgart gekommen war. Es lag unweit meiner Wohnung. Man konnte sich hier ganz tief ins Italienische eingegraben fühlen: diese so ungemein nonchalant inszenierte Aufgeregtheit, die Art, wie anstatt einer Speisekarte die Gerichte des Tages mündlich vorgetragen wurden (ich verstand auch nach Jahren kaum, wovon die Rede war und war in diesem Nichtverstehen ganz eins mit Simon) und ich dann stets zwei Portionen Spaghetti aglio e olio bestellte. Doch niemals wäre der Wirt auf die Idee gekommen, die wortreiche Beschreibung der Gerichte auszulassen, zudem hörten wir jedes Mal mit Begeisterung zu, so, als würden wir einer sehr kurzen Oper lauschen.
Als ich mit Simon für einige Tage in Italien gewesen war, hatte ich mit Schrecken festgestellt, wie wenig das tatsächliche Italien an das Italien dieses Stuttgarter Restaurants herankam. Dort waren wir blöde Touristen, die man ohne Scham und Stil beschiß, hier aber willkommene Freunde. Die meisten der anderen Gäste waren Italiener, die alle – nicht nur die Alten – einen Hauch von Marcello Mastroianni verströmten: eine Ungeschicklichkeit, die sich in eine bezaubernde Revuenummer verwandelt hatte. Ein Stolpern als perfekte Form. Die Italiener in Italien wirkten dagegen wie Fälschungen, wie ein großangelegter europäischer Betrug. Eine Klischeemaschine statt einer Kaffeemaschine. So gesehen, war Berlusconi wirklich der richtige Mann. Der Richtige im Falschen.
Übrigens saßen Simon und ich stets nebeneinander, nie einander gegenüber. Wie ein altes Ehepaar hockten wir da, beobachteten die Hereinkommenden oder sahen hinüber zum Stammtisch, wo vor allem Männer in Overalls und zwei, drei Anzugträger mit spitzen Schuhen zusammentrafen. Mitunter nahm Simon einen Zeichenblock heraus und verfertigte Graphiken, die durchaus an seine eigene Sprache erinnerten: abstrakte Formen und Muster, die jedoch den Verdacht
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