Der amerikanische Patient
multilateralen Doha-Runde erwarten und auch nicht darauf drängen. Die Verhandlungen sind blockiert; sie wiederzubeleben, würde einen klaren politischen Willen der wichtigsten Handelsnationen – allen voran der USA – erfordern. Doch Obama kann bis auf Weiteres diese internationale Führungsrolle nicht übernehmen, weil er angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage und mit Blick auf die anstehenden Wahlen innenpolitische Prioritäten setzen muss.
Transatlantische Beziehungen regenerieren
Die Europäer sollten die Zeit während des amerikanischen Wahlkampfs nutzen, ihre wirtschaftspolitischen Hausaufgaben zu machen und ihre außenpolitischen Ideen in die hierzulande als »Ideenagenturen« 10 und »Denkfabriken« 11 bezeichneten Think Tanks der USA einzuspeisen. Da die Ideenproduktion wie so vieles in den USA häufig nach dem Just-in-time -Prinzip funktioniert, ist es höchste Zeit, Informationen und Ideen aus Europa beizusteuern. Viele der in amerikanischen Think Tanks entwickelten Pläne werden mitsamt ihren Vordenkern in der nächsten Regierung den Praxistest bestehen müssen.
Darüber hinaus sollten die Europäer die transatlantischen Beziehungen im mehrfachen Wortsinn regenerieren. Es ist sehr bedenklich, dass renommierte Austauschorganisationen ihre über Jahrzehnte bewährten Programme aufgrund finanzieller Engpässe einschränken oder aufgeben. Ihre Arbeit wäre heute wichtiger denn je: Damit Gefahren und Chancen der transatlantischen Zusammenarbeit überhaupt und rechtzeitig wahrgenommen werden können, müssen die Eliten hüben wie drüben Austauschprogramme durchlaufen – sei es über Parlamente, Universitäten, Schulen, Think Tanks oder andere Nichtregierungsorganisationen –, damit sie lernen, die gesellschaftliche und politische Dynamik des anderen zu verstehen.
Amerika befindet sich in einer »Sattelzeit«, 12 einer Zeit dynamischer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Umbrüche. Diese Faktoren werden die Supermacht selbst und die Weltpolitik verändern. Das weltweite Ausmaß dieser Veränderungen werden Experten in den einzelnen Ländern und Regionen in entsprechenden Expertisen einzuschätzen versuchen, aber wohl erst Historiker in der Rückschau ermessen können. Die Ursachen dieser Veränderungen sind aber schon heute auszumachen: Es sind die sozialen Gleichgewichtsstörungen, die politische Ohnmacht, die wirtschaftlichen Herzrhythmusprobleme und die energetische
Antriebsschwäche der vom Kollaps bedrohten Supermacht. Diese Beschwerden werden den amerikanischen Patienten daran hindern, seine vitalen Interessen in der Welt so umsichtig zu vertreten wie bisher.
Wir sollten uns in unserem eigenen Interesse darauf einstellen.
Erste Auflage
Copyright © 2012 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Zeichnungen: Peter Palm, Berlin
eISBN 978-3-641-06898-1
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