Der Andere
von den Lippen wischte. Luke und ich warteten einen Augenblick, bevor wir ihm durch den Flur hinterherschlichen. Von der Tür bis zum Foyer sah ich, wie er irgendetwas Leises, scheinbar Zärtliches zu Claire sagte. Er berührte mit der Hand ihren Ellbogen, doch sie zog ihn ruckartig zurück und ging in die Küche. Einen Augenblick lang stand er allein im Foyer. Dann nahm er seine Aktentasche und machte sich, ohne ein Wort zu sagen, davon.
2 . Kapitel
I n der ersten Nacht, die ich in der Wohnung verbrachte, schlief ich ein, wie alle anderen auch. Als Luke fragte, ob ich übernachten dürfe, lächelte seine Mutter. »Meinst du nicht, dass wir seine Eltern anrufen sollten?« Luke runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und meinte, das sei schon in Ordnung so. Achselzuckend ging sie darüber hinweg: »Wie du meinst.« In jenen Nächten zu Beginn unserer Freundschaft konnte ich an die Wand gelehnt schlafen, zusammengerollt in einem Ledersessel oder einfach nur flach auf dem Boden liegend, gleich wie. Nachdem Claire uns unsere Gutenachtgeschichte – Sherlock Holmes, Grimms Märchen oder die Geschichten aus
Tausendundeiner Nacht
– vorgelesen und das Licht ausgemacht hatte, nahm Lukes Atem rasch lange, ungeordnete Züge an, und ebenso schnell glich ich mich an, bewusstlos bis zum nächsten Morgen, als er mich mit einem Stoß seines Ellbogens in die Rippen weckte. Damals schien Schlaf etwas ganz Einfaches zu sein, das Ausschalten des Bewusstseins beim Ausschalten des Lichts, automatisch und nebensächlich.
Kinder glauben, dass die Dinge tatsächlich so sind, wie sie sie zum ersten Mal erleben. Als Luke mich an meinem ersten Morgen im Haushalt der Nightingales vor Tagesanbruch wachrüttelte, glaubte ich, dass alle Kinder um viertel vor sechs aufstehen, um mit ihren Müttern laut die Zeitung zu lesen. Es schien mir durchaus möglich, dass unzählige andere kleine Sechsjährige in unzähligen anderen Wohnungen auf der Upper East Side von Manhattan Wörter lernten wie »multilateral« und »interventionistisch«, anstatt in ihren Betten zu liegen, zu schlafen und ihren einfältigen, harmlosen Träumen nachzuhängen.
Wir saßen um den Küchentisch herum, auf dem der erste Teil der aktuellen
New York Times
ausgebreitet vor uns lag. Claire zeigte mit spitzem Finger auf eine Überschrift. » NATO verstärkt Engagement in Bosnien und greift serbische Basis in Kroatien an«, las sie, während Luke in seiner Schale Lucky Charms herumrührte. Ich betrachtete die aufgeweichten Kleeblätter und Sterne, die auf der regenbogenfarben durchzogenen Milch in meiner eigenen Schale trieben. Luke hatte auf die freie Stelle am Tisch vor mir gezeigt, worauf Claire sagte: »Ich weiß nicht, was er zu Hause macht, aber Daniel kann sich hier selbst nehmen, was da ist.« Ich hatte aber keinen Appetit und rührte das Müsli nicht an.
»Dieser Mann sagt: ›Wenn wir nicht handeln, gelten wir als inkompetent, ohne Rückgrat. Handeln wir aber zu energisch, könnten wir eine Eskalation provozieren, die tragische Konsequenzen hätte. Wir wollen versuchen, diesen schmalen Grat zu beschreiten.‹« »Gut«, strahlte Claire. »Hmmm. Das ist eine gute Sicht auf die Dinge, denke ich.« Ein Blick aus dem Küchenfenster zeigte, dass über dem Central Park langsam der Tag anbrach. Claire drehte die Zeitung herum, so dass die Schrift für uns nicht mehr auf dem Kopf stand. »Jetzt versuchst du mal einen Satz.«
Luke schob seine Müslischale zur Seite und blickte angestrengt auf die Absätze voller Text. Ich stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter. Die Seite war übersät mit Formationen schwarzer Zeichen, die sich in einem Feld aus meist unbekannten Kombinationen auflösten.
»›Früher‹«, begann Luke und zögerte. Ich sah, wo er hinguckte, und die drei Wörter, die er gerade laut gelesen hatte, lagen plötzlich nackt, offen und ungeschützt da. »›Früher‹«, begann er von neuem und brach ab. Das Wort hinter »früher« wand sich wie ein Wurm an einem Stöckchen.
Claire las über Kopf. »›Schreiten.‹«
»Schreiten?«
»Schreiten, wie gehen. Vorwärtsgehen.«
Auf der Seite rollte sich der Wurm aus.
Luke las: »›Früher führte das Beschreiten dieses Weges zu …‹«
»Sprich es aus.«
»Kon…«
Ich prüfte dieses unfreundliche Wort. Seine beiden Hälften stritten miteinander, fanden nicht zusammen.
»Kon…«
»Hat Daniel vielleicht eine Idee?« Claire blickte um sich. »Vielleicht kann er dir helfen.«
Mit einem fast
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