Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
an?«
»Haben Sie heute vielleicht schon die Kolumne ›Unsere Stadt‹ gelesen?«
»Nein, noch nicht.«
»Dann haben Sie Glück, dass ich Sie erreicht habe, um Sie zu warnen. Sie haut Ihnen die Vorgehensweise im Fall Janice Durbin links und rechts um die Ohren. Der Bürgermeister rief mich gleich in der Frühe an – auch zu Hause, übrigens – und machte mir die Hölle heiß, und ich muss ehrlich gestehen, dass ich mir die ersten vier Wochen in meinem Job anders vorgestellt hatte. Es macht keinen Spaß, wenn ich mich oder den Chef meiner Mordkommission bei jeder Gelegenheit verteidigen muss.«
»Sie ist eine unverantwortliche Irre«, sagte Glitsky.
»Das mag ja richtig sein, aber sie hat nun mal Lelands Ohr, und der will mittlerweile Ihren Kopf rollen sehen.«
Glitsky atmete tief durch. »Wissen Sie, Vi, an diesem Punkt bin ich fast geneigt, ihm meinen Kopf auf dem Tablett zu servieren. Wer braucht schon diesen Ärger? Wenn Sie es wünschen, trete ich augenblicklich zurück.«
»Führen Sie mich nicht in Versuchung, Abe! Ich will Ihren Rücktritt nicht, schon gar nicht wegen dieser Angelegenheit, bei der Sie ja nur Ihren Job machen. Davon ganz abgesehen: Wie soll es weitergehen, wenn ich gleich beim ersten Mal, dass diese Idiotie ihr scheußliches Gesicht zeigt, klein beigeben würde? Aber ich werde Leland und der Öffentlichkeit einige Fragen beantworten müs sen, bevor diese Geschichte völlig außer Kontrolle gerät.«
Noch einmal atmete Glitsky tief durch. »Was genau sagt sie denn? Marrenas.«
»Im Prinzip den gleichen alten Kram: dass Sie bei Ihrem Versuch, Ro wieder einzubuchten, sogar plausiblere Verdächtige direkt vor Ihrer Nase ignorieren.«
»Und wer wäre das?«
»Der Durbin-Ehemann, der kein Alibi vorweisen könne und offensichtlich eine Affäre mit einer Angestellten habe.«
»Das schreibt sie?«
»Mehr oder minder. Und darauf folgt natürlich die Frage, warum Sie sich nicht auf ihn statt auf Ro konzentrieren.«
»Vielleicht, weil Ro der Täter war. Abgesehen davon sollten Sie wissen, dass ich den Ehemann schon mindestens zweimal verhört habe und es auch weiterhin tun werde, weil ich ja sonst nichts zu tun habe. Und Ihnen wird sicher auch aufgefallen sein, dass ich bislang noch niemanden verhaftet habe – weder Ro noch Michael Durbin –, was in der Regel bedeutet, dass ich auch noch keinen überzeugenden Verdacht habe.«
»Nun, wenn das der Fall ist, dann sollten Sie vielleicht eine diesbezügliche Pressemitteilung herausgeben. Mein Büro wird ein ähnliches Statement vorbereiten.«
»Aber das erklärt sich doch eigentlich von selbst.«
»Sicher, aber in diesem Fall sind die Dinge wohl etwas delikater.«
»Wie wäre es, wenn wir verlautbaren würden, dass wir uns jeden Kommentars enthalten, weil die Ermittlungen noch andauern?«
»Wissen Sie nicht mehr, wie das beim letzten Mal in die Hose ging? Ich denke, wir sollten uns etwas entgegenkommender verhalten. Und ich meine das wirklich ernst, Abe. Ich weiß nicht, wie lange ich noch meinen Job habe, wenn dieser Druck anhält. Ich bewege mich ohnehin schon auf dünnem Eis. Lassen Sie uns versuchen, einen etwas konzilianteren Ton anzuschlagen. Was meinen Sie? Die gute Miene zum bösen Spiel hat noch niemandem geschadet.«
27
Achtundfünfzig Personen hatten sich im Krematorium eingefunden, unter ihnen auch Glitsky, der in der letzten Reihe saß und sich Notizen machte, als Verwandte und Bekannte von Janice Durbin nach vorne traten, um die Trauerreden zu halten. Michael Durbin, den Tränen nahe, aber äußerlich gefasst, würdigte seine Frau als Partner, Ernährer, seelischen Beistand und Mutter. Kathy Novio, die ihre Rede mehrfach schluchzend unterbrechen musste, lud alle Anwesenden zum anschließenden Empfang in ihr Haus ein und sprach dann von ihrer gemeinsamen Kindheit, von Janices Passion für ihre Familie, ihre Patienten und ihren Beruf, erinnerte an ihre Überzeugung, dass die Welt ein lebenswerter, auch ein sicherer Ort sei – und ermahnte alle Anwesenden, trotz des tragischen Vorfalls nicht mit Zorn oder Kleinmut nach Hause zu gehen. Zwei andere Freundinnen aus ihrer Schulzeit sprachen von einem lebensbejahenden Mädchen, während der Pastor, der sie offensicht lich gut kannte, mit sonorem Bariton von ihrer ehrenamtlichen Arbeit mit geistig Behinderten erzählte, von ihrer Großzügigkeit und ihrem Glauben.
Glitsky hörte nichts, was aus dem Rahmen gefallen wäre, konnte sich aber gleichzeitig nicht die Frage verkneifen,
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