Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
den Highway zogen. Ich war ja nur ein Kind. Ich dachte, Scheiße wäre der natürliche Geruch der Welt. Mir kamen die Watney Street und der Highway lieblicher und sauberer vor als alles, was ich bis dahin ge
kannt hatte, und erst später erfuhr ich zu meiner großen Überraschung, dass andere diese Gegend für ein absolut grausiges, stinkendes Loch hielten.
    In der Watney Street konnte man alles kriegen. Unser Ende der Straße bestand aus Wohnhäusern, der Rest aus Geschäften und Kneipen, Marktstände gab es jedoch auf der gesamten Straße. Man bekam dort billig alte Kleidung, altes Eisen, altes Was-auch-immer. Wenn ich an den Ständen entlanglief, war ich auf Augenhöhe mit Kohlköpfen, unförmigen Kartoffeln, Schafsleber, Salzgurken, Kaninchenfellen, Zervelatwurst, Kuhhaxen und sanft gerundeten, schwellenden Frauenleibern. Die Menschen kamen in Scharen geströmt. Und die unterschiedlichsten Leute – ungehobelte, arme – wühlten sich durch die Berge von getragenen Schuhen und Lumpen, wuselten wie die Ameisen, schubsten und drängelten und fluchten, grimmige alte Damen, Kinder wie ich, Matrosen, fröhliche Mädchen und trübselige Männer. Alle schrien. Als ich mich zum ersten Mal da durchschob, dachte ich, verflixt, in diesem Dreck hier möchte ich nicht liegen, und als kleiner Junge konnte man leicht hinfallen. Am besten, man blieb dicht bei den Karren, dann hatte man etwas zum Festhalten.
    Ich ging gern für andere einkaufen. Entweder in Richtung Tower oder in Richtung Shadwell. Die Geschäfte waren allesamt vollgestopft mit Zeug aus dem Meer und von den Schiffen, und ich blieb nur zu gern vor den Schaufenstern stehen und lungerte an den Türen herum, um ein wenig vom Duft dieser Welt zu ergattern. Weshalb ich, als unsere Vermieterin, Mrs Regan, mich eines Tages nach Pfeifentabak für Mr Reuben losschickte, der oben wohnte, auch mindestens eine halbe Stunde bis zum Tabakdock brauchte. Ich bekam von einer der Tabakhändlerinnen eine halbe Unze, träumte, wie immer, auf dem Rückweg vor mich hin und dachte mir deshalb nichts dabei, als ein blasses Mädchen mit einer kleinen Schwellung im Nacken ein Ta
blett mit Kämmen auf den Gehsteig fallen ließ und die Menschen mit einem Mal von der Straße verschwanden, wie von großen Schlünden in Hauseingänge und Seitengassen gesogen oder an Mauern gepresst. Meine Ohren nahmen das Verstummen des gewohnten Highway-Rhythmus, dieses plötzliche Schweigen, als hielten alle gleichzeitig den Atem an, gar nicht richtig wahr. Wie auch? Ich kannte den Highway ja nicht. Ich kannte nur dunkles Wasser und Blasen werfenden Unrat und kleine Brücken über Scheißebächen, die immer schwankten, ganz gleich, wie leichtfüßig man hinübersprang. Diese neue Gegend, diese Matrosenstadt, in der wir jetzt eine Weile hübsch und gemütlich leben werden, Jaffy, mein Bub, wie mir die Mama erklärte, das Ganze hier, überhaupt alles war anders. Schon jetzt hatte ich Dinge gesehen, die ich noch nie gesehen hatte. In dem neuen Labyrinth aus engen Gassen wimmelte es von Gesichtern und Stimmen aus aller Welt. Ein brauner Bär tanzte brav an der Ecke neben dem Wirthaus, das Sooty Jack hieß. Männer trugen Papageien auf der Schulter, herrliche Vögel, scharlachrot, dottergelb, leuchtend himmelblau. Ihre Augen blickten weise und halb amüsiert, ihre Füße waren geschuppt. Über der Ecke Martha Street hing der schwere, parfümierte Duft arabischen Sorbets, und Frauen in Seidenstoffen, bunt wie die Papageien, lehnten in den Hauseingängen, Arme in die Hüften gestemmt, Busen so mächtig wie die Galionsfiguren der Schiffe an den Kais.
    In Bermondsey waren die Schaufenster muffig. Wenn man mit dem Gesicht ganz nah heranging und hineinspähte, sah man alte Fliegenfänger, fahle Fleischstücke, staubige Kuchen und Zwiebelzöpfe, deren Schalen auf vergilbendes Zeitungspapier rieselten. Am Highway aber waren die Läden voller Vögel. Ganze Käfigstapel türmten sich übereinander, und in jedem drängten sich Geschöpfe, klein wie Spatzen, aber bunt wie Bonbons, rot und schwarz, weiß und gelb, violett und grün, und manche zart lavendelfarben wie die Adern auf einem Babyköpfchen. Es
stockte einem der Atem, wenn man sie so dicht an dicht hocken sah, jeder Flügel gegen den des Nachbarn rechts und links gequetscht. Am Highway saßen grüne Sittiche auf Laternenpfählen. Kuchen und Torten glänzten, Schicht über Schicht, wie Juwelen hinter hohen Glasfenstern. Ein Schwarzer mit Goldzähnen und weißen

Weitere Kostenlose Bücher