Der Atem der Welt
»Aber es bestand keine Gefahr.«
»Hat aber doch Zähne, oder?«, schrie die Frau. »Und Klauen?«
Worauf das Mädchen hinter seiner Mutter hervorguckte, einen Zipfel des getüpfelten Tuchs packte, das es um den Hals geschlungen hatte, und lächelte. Es war das erste Lächeln meines Lebens. Was natürlich eine absurde Behauptung ist. Ich war schon häufig angelächelt worden, vor nicht einmal einer Minute hatte mich gerade erst der große Mann angelächelt. Und trotzdem sage ich: Es war das erste Lächeln, weil es das erste war, das mich so direkt traf – wie eine dünne Nadel, die man nicht sieht. Dann stolperte das Mädchen, weil die Mutter etwas zu heftig an ihr gezogen hatte, und fiel der Länge nach hin, mit ausgebreiteten Händen und verzerrtem Gesicht. Sie brach in großes Geheul aus.
»Oh Gott«, sagte ihre Mutter. Wir ließen die beiden Jammernden am Straßenrand zurück und liefen an den Marktständen entlang zu unserem Haus. Mrs Regan saß oben auf der Treppe, rappelte sich aber hoch, als unser Trupp näher kam, und starrte uns mit offenem Mund an. Alle redeten auf einmal. Mama kam die Treppe heruntergeeilt, ich breitete die Arme aus, und Tränen stürzten mir aus den Augen.
»Nichts passiert«, sagte Mr Jamrach und legte mich ihr in die Arme. »Es tut mir so leid, Ihr Junge war ganz verängstigt. Furchtbare Sache – mit der Kiste war was nicht in Ordnung, ist ganz von Bengalen gekommen – hat mit seinem Hinterteil die Rückwand aufgedrückt . . .«
Sie stellte mich auf die Füße, klopfte mich ab und sah mir scharf in die Augen. »Seine Zehen«, sagte sie. Sie war blass.
Ich betrachtete staunend die wachsende Menge.
Mr Jamrach langte in seinen Mantel und holte Geld heraus.
Nun war auch das Mädchen mit ihrer Mama wieder da. Sie hatte sich die Knie aufgeschürft und machte ein mürrisches Gesicht. Ich entdeckte Mr Reuben.
»Ich habe Ihren Tabak«, sagte ich und griff in meine Tasche.
»Schön, danke, Jaffy«, sagte Mr Reuben und zwinkerte mir zu.
Jetzt legte die Schottin wieder los, aber sie hatte die Fronten gewechselt und verteidigte Mr Jamrach nun als den großen Helden: »Hinterhergelaufen ist er! Hab so was noch nie gesehen! Hat ihn einfach so gepackt«, sagte sie und ließ die Hand des Mädchens los, um zu demonstrieren, wie er auf den Rücken des Tigers gesprungen und seine Kehle gepackt hatte. »Hat ihm die bloße Hand einfach ins Maul gesteckt. Tatsache. Einem wilden Tiger!«
Mama schien wie betäubt und ein bisschen einfältig. Sie ließ mich nicht aus den Augen. »Seine armen Zehen«, sagte sie. Ich sah an mir herunter, und sie bluteten, wo sie über die Steine geschleift worden waren, und bei dem Anblick spürte ich den Schmerz. Ich konnte fühlen, wo der Tiger meinen Kragen nass gemacht hatte.
»Verehrte liebe Frau«, sagte Mr Jamrach und schob Geld in Mamas Schürzentasche, »das ist der tapferste kleine Junge, der mir je begegnet ist.«
Er reichte ihr eine Karte mit seinem Namen drauf.
Wir aßen gut an jenem Abend, mir war nicht schlecht vor Hunger in der Nacht. Ich war sehr glücklich, ganz in Liebe zu dem Tiger entbrannt. Sie wusch mir die Zehen mit warmem Wasser und rieb sie mit Butter ein, die sie von Mrs Regan hatte. Mr Reuben saß in unserem Zimmer und zog an seiner Pfeife, und sämtliche Nachbarn drängelten sich vor unserer Tür. Es war wie Jahrmarkt. Mama war ganz aufgedreht und erzählte allen immer
wieder: »Ein Tiger! Ein Tiger! Jaffy ist von einem Tiger getragen worden!«
Der Tiger war mein Schicksal. Als unsere Wege sich kreuzten, wurde alles anders. Danach nahm meine Straße eine neue Richtung, einfach so, und auf ging es in die Zukunft. Es hätte nicht so kommen müssen. Nichts hätte jemals so kommen müssen. Mir hätte diese großartige Sache nicht passieren müssen. Ich hätte Mr Reubens Tabak nach Hause bringen und die Treppe zu meiner lieben Mama hinauflaufen können, und alles wäre völlig anders gekommen.
Die Visitenkarte stand an prominenter Stelle auf dem Kaminsims, direkt neben Mamas Haarbürste und einem Krug mit flaumigen schwarzen Federn, und als Mrs Regans Sohn Jud von der Arbeit nach Hause kam, las er sie uns vor.
Charles Jamrach, Naturforscher und Importeur
von Säugetieren, Vögeln und Muscheln.
2
Als ich Tim Linver zum ersten Mal sah, stand er unten auf der Straße vor unserem Haus und rief hoch.
»Jaffy Brown wird verlangt!«
Es war der Morgen nach meiner großen Begegnung. Ich stand im Zimmer von Mari-Lou und
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