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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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fest. Er starrte mir in die Augen und sagte immer und immer wieder: »Na komm, bist ein braver Junge – komm, bist ein braver Junge . . .«
    Ich musste niesen und bekam Applaus. Der Mann grinste. Jetzt bemerkte ich die große Menschenmenge, alle reckten die Köpfe, um mich zu sehen.
    »Ach, du armes kleines Dingelchen!«, rief eine weibliche Stimme, und ich blickte hoch und sah sie ganz vorn in der Menge, eine erschrocken blickende Frau mit zerzaustem, drahtigem Haar und wild stierenden Augen, die durch flaschenbodendicke Brillengläser verschwommen und riesig wirkten. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Die Menschenmenge kam mir
vor wie lauter auf eine Tafel geschmierte Gesichter, hingeschmierte Gesichter mit schmuddeligen Körpern, hier und da ein farbiger Klecks, scharlachrot, grün, purpurn. Sie wogte sacht wie das Meer, die Menge, und meine Augen konnten sie nicht festhalten, sie verschwamm völlig, als hätten Tränen sie verwischt – obwohl meine Augen trocken waren –, sie schwamm und bebte und kreiselte mit anschwellendem Lärm, bis irgendetwas meinen Kopf wieder wach schüttelte und ich deutlich – deutlicher, als ich jemals zuvor etwas gesehen hatte – das Gesicht des kleinen Mädchens erblickte, das ganz vorn in der Menge stand und die Hand seiner Mutter hielt, gestochen scharf vor einer Wolke aus Nebel.
    »So«, sagte der große Mann, nahm mein Kinn in seine Faust und drehte mein Gesicht zu sich, damit ich ihn anschaute, »wie viele Finger, mein Junge?« Er hatte einen starken ausländischen Akzent. Seine andere Hand hielt er mir vors Gesicht, Daumen und kleiner Finger waren abgeknickt.
    »Drei«, sagte ich.
    Erneutes beifälliges Gemurmel der Menge.
    »Braver Junge, braver Junge!«, sagte der Mann, als hätte ich etwas sehr Schlaues vollbracht. Er stellte mich auf die Füße, hielt mich aber noch an den Schultern. »Alles in Ordnung?«, fragte er und schüttelte mich sanft, »sehr brav, tapferer Junge. Guter Junge! Braver Junge! Allerbester Junge!«
    Ich sah Tränen in seinen Augen, die an den Lidrändern hängen blieben, was ich seltsam fand, da er so energisch lächelte und dabei eine vollkommen gleichmäßige Reihe kleiner, strahlend weißer Zähne zeigte. Sein breites Gesicht war ganz nah an meinem, weich und rosig wie gekochter Schinken.
    Er hob mich hoch und drückte mich an sich. »Nenn mir deinen Namen, braver Junge«, sagte er, »und dann bringen wir dich nach Hause zu deiner Mama.«
    »Jaffy Brown«, sagte ich. Ich merkte, dass mein Daumen in
meinem Mund steckte, und zog ihn rasch heraus. »Ich heiße Jaffy Brown, und ich wohne in der Watney Street.« Im selben Moment zerriss ein grässliches Geräusch wie von freigelassenen Jagdhunden, Höllendämonen, einstürzenden Bergen die Luft. Zeter und Mordio.
    Das Rotgesicht donnerte: »Um Himmels willen, Bulter! Schaff ihn wieder in die Kiste! Er hat die Hunde gesehen!«
    »Ich heiße Jaffy Brown«, rief ich, so deutlich ich konnte, denn inzwischen war ich wieder komplett zurück in der Welt und merkte, dass es in meinem Magen bedenklich rumorte. »Und ich wohne in der Watney Street.«
     
    Ich wurde in den Armen des großen Mannes nach Hause getragen, als wäre ich ein Säugling, und unterwegs redete er die ganze Zeit mit mir: »Was sagen wir denn nun der Mami? Und was wird Mami sagen, wenn sie hört, dass du mit einem Tiger gespielt hast? Hallo, Mami, ich habe mit meinem Freund, dem Tiger, gespielt! Ich habe ihm einen Stups auf die Nase gegeben! Wie viele Jungs können wohl so was von sich behaupten! Wie viele Jungs spazieren die Straße entlang und treffen einen Tiger? Bist schon ein ganz besonderer Junge! Ein mutiger Junge! Einer unter zehn Millionen!«
    Einer unter zehn Millionen. Als wir, einen Pulk Gaffer im Schlepptau, in die Watney Street einbogen, war mein Kopf längst auf die Größe der St.-Pauls-Kathedrale angeschwollen.
    »Hab Ihnen doch gesagt, dass so was passieren kann, Mr Jamrach!«, kreischte die bebrillte Frau mit dem kleinen Mädchen, das nebenherhüpfte. »Und was ist mit uns? Was ist mit uns, wo wir neben Ihnen wohnen müssen?«
    Sie sprach mit schottischem Schnarren, und ihre Augen funkelten wütend.
    »Er war satt und schläfrig«, erwiderte der Mann, »hatte doch erst vor zwanzig Minuten reichlich gefressen, sonst hätten wir
ihn doch nicht transportiert. Aber es tut mir leid, das hätte nicht passieren dürfen, und es wird auch nie wieder passieren.« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

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