Der Atem der Welt
wohl einen Namen gehabt haben, aber den wusste ich nicht, oder falls doch, dann habe ich ihn vergessen. Egal. Ich hatte nie etwas mit ihm zu tun und er auch nicht mit mir.
Eines Tages, als sie summend über ihrer Näharbeit saß – einer Seemannshose, die im Schritt gerissen war –, kam er herein, stieß sie auf den Fußboden, fing an, sie zu treten, und schimpfte sie eine dreckige Hure. Ich bekam Angst, so große Angst wie, glaube ich, noch nie in meinem Leben. Sie rollte sich weg, knallte mit dem Kopf gegen das Tischbein, kam wieder auf die Beine und brüllte wie am Spieß, er sei ein Scheißkerl, ein Windhund und sie sei fertig mit ihm, und dabei wedelte sie mit ihren kurzen, kräftigen Armen und ballte beide Fäuste, bereit zu schlagen.
»Lügnerin!«, brüllte er.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass er solch eine Stimme besaß. Als wäre er doppelt so breit.
»Lügnerin!«
»Du nennst mich eine Lügnerin!«, kreischte sie und packte ihn an beiden Ohren und riss seinen Kopf hin und her, als würde sie ein altes Kissen aufschütteln. Als sie ihn losließ, schwankte er. Sie rannte nach draußen und schrie wie am Spieß, und alle Nachbarinnen kamen mit gerafften Röcken herbeigerannt, einige mit Messern, andere mit Stöcken oder Töpfen und eine mit einem Kerzenhalter. Er warf sich zwischen sie, zückte ebenfalls ein Messer, einen barbarischen Dolch, den er hoch über die Schulter schwang, beschimpfte sie alle als Huren und scheuchte sie auseinander, während er zur Brücke rannte.
»Ich krieg dich, du Miststück!«, schrie er im Weglaufen, »ich krieg dich, und ich mach dich fertig!«
In jener Nacht flohen wir. Jedenfalls habe ich das so in Erinnerung. Wahrscheinlich war es nicht in jener Nacht, wahrscheinlich war es ein paar Tage oder eine Woche später, aber nach dem Vorfall kann ich mich an nichts mehr in Bermondsey erinnern, nur daran, wie hell der Mond auf den Fluss schien, als ich meiner Mutter barfuß über die London Bridge folgte, meiner zweiten Geburt entgegen. Ich war acht Jahre alt.
Ich weiß, dass wir irgendwann in die Gegend von Ratcliffe Highway kamen, und dort begegnete ich dem Tiger. Alles, was danach folgte, hatte hier seinen Ursprung. Ich glaube an Schicksal. Was die Würfel entscheiden. Das Los. So war es schon immer. Schließlich landeten wir in der Watney Street. Wir wohnten oben unterm Dach in Mrs Regans Haus. Eine lange Treppe führte hoch zur Haustür. Rund um den ebenerdigen Bereich umschloss ein Gitter einen sehr düsteren Ort, wo Männer sich nachts versammelten, Karten spielten und scharfe Getränke kippten. Mrs Regan, eine große, abgearbeitete Frau mit einem blei
chen, verschreckten Gesicht, wohnte unter uns, zusammen mit ständig wechselnden Untermietern, meist Matrosen und Schwarzhändlern. Im ersten Stock wohnte Mr Reuben, ein alter Schwarzer mit weißem Haar und einem buschigen gelben Schnauzbart. Mitten in unserem Zimmer hing ein Vorhang, und dahinter schnarchten sich zwei alte preußische Huren, die Mari-Lou und Silky hießen, leise durch den Tag. Unser Teil des Zimmers hatte ein Fenster, das auf die Straße ging. Morgens drang der Hefegeruch aus der gegenüberliegenden Bäckerei bis in meine Träume. Außer sonntags wurden wir jeden Tag sehr früh vom Karren des Bäckers geweckt, der über die Steine rumpelte, etwas später folgte der Lärm der Marktleute, die ihre Stände aufbauten. Die Watney Street war ein einziger Markt. Es roch nach fauligem Obst und Gemüse, nach altem Fisch und nach den zwei wuchtigen Fleischkarren, die vor der Schlachterei drei Häuser weiter standen, mit den abgeschnittenen Schweineköpfen zuoberst, die Schnauzen in die Luft gereckt. Blut und Pökellake lief über den Gehweg in den Rinnstein, sammelte sich als Pampe unter den Karren und wurde tagtäglich überallhin getragen, in die Häuser, die Treppen hoch und bis in die Zimmer hinein. Meine Zehen glitschten in vertrauter Weise da durch, aber es war auf jeden Fall besser als der vollgeschissene Themseschlamm.
Fliegenfänger hingen über jeder Tür und jedem Karren. Alle waren schwarz und knubbelig von einer Million Fliegen, aber das half nichts. Die nächste Million tanzte fröhlich in der Luft und spazierte über die Kutteln, die der Schlachtergehilfe morgens als Erstes so sorgfältig hauchdünn geschnitten und ins Schaufenster gelegt hatte. Doch nichts auch nur halb so schlimm wie Bermondsey, das nach Scheiße stank. Dass Bermondsey nach Scheiße stank, merkte ich erst, als wir an
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