Der Aufgang Des Abendlandes
Bewegung als einzigen Lehrsatz ihrer Schematik herleiert, als drehe es sich bei Weltdrehung um objektive
Tatsache statt um subjektiven Verstandesbegriff, der nach naivem Menschenmaß unterscheidet. Selbst der alte Helvetius,
der nicht so dumm war wie die ihm folgende Kraftstoffelei, gab zu, daß Kraft und Stoff keine Wirklichkeiten, sondern
nur Postulate menschlicher Auffassung seien. Ostwalds »Energetik« blieb auch nur eine nichtssagende Phrase, weil
Energetiker und Vitalisten sich nicht dazu entschließen, aus solcher Lebensdynamik die natürliche Folgerung eines
supranaturellen »immateriellen Lebensprinzips« (Kant) zu schöpfen. Was man als Bewegung wahrnimmt, ist trotz
der Verpflichtung, damit zu rechnen, eine Täuschung der drei Vorstellungen Zeit, Raum, Kausalität. Wie sich aber
die Materie von sich aus in Bewegung gesetzt haben sollte, wird wohl kein ehrlicher Mechaniker ausdenken. Eine »erste
Bewegung« wäre freilich ein Wunder, denn wie konnte sie entstehen ohne Anstoß eines Bewegenden, der sie zum
Rollen brachte? Oder war dies Bewegende immanent, dann wäre eben dies der »letzte zureichende Grund«, dem
nicht höhere Mathematik die Wurzel ausziehen kann. Denn ob »Gott der erste Beweger« von außen oder ob
er sich innen verbirgt, immer bleibt er bestehen als bewegende Kraft. Allein, das Wunder ist leider viel größer
und unheimlicher, sintemal es eine » erste Bewegung« überhaupt nie gegeben haben kann, sondern Bewegung und
Ruhe beide nur menschliche Begriffe für etwas sind, was weder Zeit noch Raum noch Kausalität weder ein Erstes noch
ein Letztes hat. Denn die All-Ewigkeit kennt weder Ursache noch Wirkung, weder Anfang noch Ende, so daß ein
»Wunder der ersten Bewegung« durch die Kinderfrage ausgehöhnt wird: Und wer schuf Gott? So kindlich gehen
selbst die größten Geister, sobald sie von transzendentaler Metaphysik indischer Urweisheit abirren, an die
Grundfrage heran. Diejenigen aber, die als angenehme Zerstreuung zwischen Kolleghalten über Kathederzoologie
»Welträtsel« lösen, verdienen eine Anstellung als Wirklicher Geheimer Rat des höheren
Blödsinns und des höchsten Größenwahns, der im Namen der bekannten Göttin Vernunft ein Sacrifizio
dell' Intelletto und ein Credo quia absurdum neuen Pfaffentums fordert.
Wahre Erkenntnis ist schaurig-ernst und entzieht sich grabestief dem Lärm der Laboratorien, wo man froh ist, wenn man
in den Retorten Regenwürmer findet. Wonnebrunzelnde Frömmelei und philanthropische Menschheitsliebelei erbauen aber
auch nicht mit zerflossenem Quark den Sinai, zu dem Gott im Donner niedersteigt. Er ist durchaus kein Pazifist, mit ihm darf
man nicht flirten, er ist nicht »die Liebe«, sondern Gerechtigkeit und den Imperatorhohn spricht er selber aus:
»Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben?« Nicht verzückter ideologischer Augenaufschlag schaut diese
Unendlichkeit. Dazu muß man auf dem Rücken liegen, durch die Brust geschossen, wie Tolstois Fürst Andrei auf
dem Schlachtfeld von Austerlitz, dem ein vor ihm stehender Napoleon spaßig vorkommt, gemessen am unermeßlichen
schweigenden Äther.
Heutige Naturforschung kann sich so wenig wie alte Scholastik von anthropomorphischen Voraussetzungen frei machen. Schon
Sokrates meinte naiv, er wolle sich nicht mit spezialisierter Beschauung »die Augen verderben«, sintemal
»das wahre Wesen der Dinge im menschlichen Denken darüber liegt«. Stolz will man den Spanier, doch in so
überschäumende heilige Einfalt, die in Spitzfindigkeit eines Erdenwurms die Allwahrheit sucht, darf man wohl einige
Wermuttropfen träufeln. Der Wissenschaftskirchenvater Aristoteles fing den Weltgeist hübsch in ein Dogmanetz ein,
unterschied genau Geistgott und Ursubstanz und ließ amtierende Untergeister (Erzengel) als Lampenträger des
Universums um die Erde herumtanzen, obschon von Pythagoras bis Aristarch lange vor Copernic und Cusa das heliozentrische
System sich der Vernunft aufdrängte. Vergleicht man indessen dies Weltbild von Menschen, nicht Gottes Gnaden mit der
modernen Substanzschwärmerei, so fällt einem Luthers Gleichnis ein: Die Vernunft sei ein betrunkener Bauer zu
Pferde, der auf der einen oder auf der anderen Seite herunterfällt und sich den Hals bricht. Kaum stolperte so Herbarts
Vorstellungsmechanik über die damit unvereinbare einheitliche Individualität, als auch schon die modernste
Psychologie mit Assimilierung und Übung der Anschauung und die Gehirnpathologie
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