Der Augenblick der Liebe
der schuld war oder dem
sie das verdankte. Dann das Ausleben einer gemeinsamen
Befallenheit. Er war jetzt allein. Das war zumutbar. Wenn er
nur wirklich allein gewesen wäre. Wenn er nicht alles, was in
ihm geschah, hätte weitersagen müssen. Anna war das
Problem, nicht Beate. Vierzig Jahre, bitte, von ihm aus auch fünfzig oder sechzig. Solange er mit sich allein war, ertrug er
alles. Aber daß es von ihm erwartet, ja verlangt werden konnte, so etwas einem zweiten Menschen, und sei es Anna,
verständlich zu machen, das erbitterte ihn. Ohne zu lügen ging da nichts. Irgendwann hatte das gewöhnliche Lügen
aufgehört. Das Leben war mitteilbar geworden, Anna und er
waren ein Paar, enger bei einander, glaubten sie, als alle, die
sie kannten. Anna hatte eine Stimmung entstehen lassen −
und er hatte zugestimmt −, eine Stimmung des Alleshinter-sichhabens. Ihnen konnte nichts mehr passieren. Ihnen
passierte auch nichts mehr. Ihm passierte nichts mehr. Es durfte nur nicht erwartet, ja verlangt werden, daß er, was ihm nicht passierte, in jeder Sekunde aufsage, vor ihr
aufsage. Für sich sein. Für sich sein dürfen. Deine Stimmung
empfinden dürfen, wie du sie jetzt, gerade jetzt, empfindest.
Sie nicht übersetzen müssen ins Erträgliche, gar für den anderen Erträgliche. Eine Drecksstimmung eine Drecksstimmung sein lassen. Sagen dürfen, nein, denken dürfen:
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Du gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Du
gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Aber du mußt es denken dürfen. Die ganze Nacht mußt du
denken dürfen: Du gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Wenn du das nicht denken darfst, knurrst du.
Als Anna sich im Schrankzimmer auszog und dann, ohne
das Licht anzumachen, ins Schlafzimmer kam, spielte er den
Schlafenden. Wahrscheinlich würde sie ihm morgen sagen,
sie habe natürlich gemerkt, daß er nicht geschlafen habe. Oft
genug wurde heiter darüber gestritten, wer zuerst wirklich eingeschlafen sei und wer nur so getan habe, als sei er eingeschlafen, um dadurch dem anderen das Einschlafen zu
erleichtern. Aber nach dieser Nacht würde keiner dem
anderen nachweisen können, der habe durch solche und
solche Atemzüge oder Laute eindeutig verraten, daß er eingeschlafen sei, während man selber noch hellwach gelegen
habe. Anna sorgte für etwas Neues. Sie schlug ihre Decke zurück, schrie schrill Naiiinnn, Gottlieb fuhr hoch, konnte vorerst nicht mehr atmen, so schnürte ihn der Schrecken. Sie
zeigte in ihr Bett. Da lag ein Messer. Ein Küchenmesser. Das
große Fleischmesser. Lang und spitz und gebogen und
scharf. Ach ja, sagte sie, ich soll mich also ins Messer legen.
Irgendeinmal früher hätte er jetzt beteuert, das Messer
nicht in ihr Bett gelegt zu haben. Er hielt es für einen Fortschritt, daß er nur sagte: Ach, Anna, und sich wegdrehte. Das
mußte sie mit sich selber klären. Zu ihrer Art ausdrucks-sicherer Geistesabwesenheit würde es passen, daß sie das
Messer in ihr Bett gelegt hatte. Höhere Geistesabwesenheit müßte man das nennen. Was sie in solchen Augenblicken tat,
hatte immer Bedeutung. Zu schwören, es nicht getan zu
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haben, würde ihre Behauptungsenergie nur steigern. Sie sich
selbst überlassen, das war zwar grausam, und sie tat ihm leid, aber er kam sich erschöpft vor. Er wußte, wie sie einander in ein Satzgetöse hineingesteigert hätten, in dem beide gleichermaßen verwundet geendet hätten. Das war
einmal. Schön, daß sie diese Routine hinter sich hatten. Daß
Anna nur noch halblaute, auf Unverständlichkeit angelegte
Sätze murrte, zeigte ihm, daß sie, auch wenn sie es
fertigbrachte zu glauben, er habe ihr das Messer ins Bett gelegt, auf den Sprechstreit verzichten konnte.
Ihn stimmte, was sie getan hatte, zärtlich. Obwohl sie doch
so gut wie nichts mitgekriegt haben konnte, hatte sie vollkommen genau reagiert. Sich das größtmögliche Messer ins
Bett legen. Genauer konnte man, was heute passiert war,
nicht ausdrücken. Auch die Sinnlosigkeit, Folgenlosigkeit
und Unwirklichkeit des heute Passierten konnte man nicht
genauer ausdrücken als durch ein möglichst großes Messer, das zwar in ihrem Bett liegt, aber überhaupt keinen Schaden
anrichten kann.
Am nächsten Morgen suchte Gottlieb zuerst im Tele‐
phonbuch, ob in Langenargen Gutbrod vorkomme. Nein.
Dann ging er ans Klavier und schlug die Töne b‐e‐a‐d‐e an.
Dann, an seinem Schreibtisch, versuchte er ihre Schuhe zu
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