Der Augenblick der Liebe
Menschen, der je geliebt hat.
Gottlieb hatte Angst. Nachts fühlte sich seine Angst an wie
eine große Geschwindigkeit, die einem den Atem verschlägt.
Möglich, daß Anna nichts wußte von dem, was in ihm tobte.
Ja, tobte. Selbst wenn Anna alles wüßte, wüßte sie nichts.
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Aber gestern kam sie, blieb in der Türöffnung stehen, bis er
zugab, daß er sie bemerkt hatte, hielt ihm beide Hände hin,
in jeder Hand eine Kammhälfte. Er mußte ergänzen: Ihr war
beim Kämmen der Kamm gebrochen. Aber weil er nichts
sagte, mußte sie sagen, was er hätte sagen sollen. Was
bedeutet das? Sagte sie. Und er hatte nur das Gesicht
verziehen können, eine Schmerzgrimasse produzieren. Er
konnte einfach nicht sagen, was sie, ohne daß er es sagte, wissen mußte. Und das, was er nicht sagen konnte, wuchs und wurde je länger um so unaussprechbarer.
Aber auch wenn er Mr. Hyatt wäre, Anna war nicht be‐
wußtlos. Er hatte Angst. Und es ewig auf den Evolutionspfusch schieben, half auch nichts. Er hatte Angst. Innen und
außen, so unvereinbar wie noch nie. Er konnte nicht mehr liegen. Wie er sich auch zu legen versuchte, es gelang kein Liegenbleiben. Also stand er nachts auf, ging hinunter, setzte
sich in seinen Schreibtischstuhl und starrte. Wenn die
Unmöglichkeiten zu grell wurden, flüchtete er aufs Papier.
Das tat er auch jetzt. So schrieb er sich hin:
Morgen geh ich, fahr ich,
morgen bin ich nicht mehr,
wenn gefragt wird, ob ich,
bin ich nicht mehr,
falls gefragt wird, hier.
Dann kam der Brief. Es gibt noch schöne deutsche Wörter, auch neuere. Luftpost. Und wenn sie dann auch noch aus
Chapel Hill kommt. Einen schöneren Ortsnamen als Chapel
Hill kann es nicht geben. Er flog dem Luftpostbrief entgegen,
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riß das Kuvert auf, spürte schon den Inhalt, kein Briefpapier,
ein festlicher goldgeränderter Karton:
We were married
on April 23, 2001.
Beate J. Gutbrod
and
Dr. Rick W. Hardy
4.
Der See machte auf sich aufmerksam. Er rauschte. Zu‐
dringlich laut, als wolle er unüberhörbar sein. Man schaut hinunter und sieht ihn, wie er heftig vorbeischiebt, als wäre
er ein Fluß. Von Westen nach Osten schob er heute seine grellgrünen Massen. Seine in der Sonne gleißenden Wellen.
Grüngold gleißend. Und immer wieder weiß brechend. Das
sagte dem Segler, daß der Wind auf Stärke fünf zuging.
Gottlieb schaute von der Terrasse aus zu. Er hatte sich auf
den Platz der Besucherin gesetzt. Dolphins mating, dachte Gottlieb. Und rannte hinunter. Von weit draußen hörte er Segel knattern, bevor sie beim Wenden Wind faßten und in die neue Richtung schlugen. Ohne diese Signale der brau-senden Bäume und des im Aprilsturm rauschenden Sees
wäre er wahrscheinlich nicht hinuntergerannt.
Der Wind hat für Bläue gesorgt, die Sonne prahlt, als habe
sie das geschafft. Und jagt den Mond vom Himmel.
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Gottlieb hörte dem nichtssagenden Rauschen zu. Und
fühlte sich informiert. Brausender, gleißender Apriltag.
Weder warm noch kalt. Nur brausend. NIOBE steckte noch
in ihren Winterhüllen. Er befreite sie, räumte das ange‐
schwemmte Holz vom Schienenweg, dann ging er hinauf,
zog sich um, kochte, Zucchini indisch, wartete auf Anna. Sie
aßen so stumm, wie das üblich war. Seine Zucchini lobte sie.
Zum Kaffee servierte er ihr Calvados, aber sich auch. Anna staunte und sagte: Unglaublich. Was? Fragte er. Was dir alles
einfällt. Sie wies auf seine Segelkleidung. Wenn du dich beeilst, darfst du mit, sagte er. Schau doch, und wies hin auf
Wind, Wellen, Glanz und Brausen. Oder ob sie heute
nachmittag nicht frei nehmen könne? Dann müsse er allein starten. Wäre aber schade. Das Wetter reicht für zwei, sagte
er. Also, sagte er, höchste Zeit. Komm oder komm nicht. Daß
er, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hastig wurde,
war sie gewohnt. Das rechnete sie zu seinen unbehebbaren Kindlichkeiten. Er will etwas, dann aber gleich.
Auf der NIOBE begrüßte er sie dann wie immer, das heißt,
so wie der Kapitän eines Transatlantikkurses die an Bord gekommenen Gäste begrüßt.
Da fiel ihm ein: Er hatte die Schwimmwesten vergessen.
Also hinauf ins Haus und in den Keller und zurück. Er warf
die Westen Anna zu, daß sie sie verstaue. Er löste die Leinen,
mit denen der Bootswagen vertäut war, ließ die NIOBE auf dem Wagen ins Wasser gleiten, bis sie sich vom Wagen
abhob und schwamm. Wie beim Stapellauf. Anna hatte
immer noch die Schwimmwesten in den Händen, als
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