Der Augenblick der Liebe
eine
Schwimmweste um. Hineinschlüpfen geht nicht. Er hievt sie
über Bord, läßt sie los und springt sofort neben ihr ins 39
Wasser, hat sie im Griff, bevor sie sinken kann. Vor tausend
Jahren hat er den DLRG‐Schein gemacht. Endlich eine Praxis.
Mit beiden Händen von hinten ihr unters Kinn. In
Rückenlage schwimmend, sie auf ihm. Das geht. Die ihr um
die Taille gebundene Schwimmweste hilft. Er muß nur den
Oberkörper über Wasser halten. Leicht ist es nicht. Immer wieder drückt ihr Gewicht ihm den Kopf unters Wasser. Das
Wasser dringt durch die Nase in den Rachen. In die
Luftröhre. Er hustet es heraus. Er kriegt keine Luft mehr. Er
reckt den Kopf an Annas Kopf vorbei in die Höhe. Dadurch
gerät Annas Kopf ins Wasser. Das Wasser schlägt über ihnen
zusammen. Die Wellen. Der erste Blitz. Die Wetterwand ist heran. Ein nicht sofort knallender Donner. Zurück zur
N I OB E. Die schwankt. Und sinkt. Der Mast schlägt wild durch die Luft, als rufe er um Hilfe. Gleich werden die Wellen hineinschlagen. Unter der Wucht der Wellen
schwappt das Wasser im Boot hin und her. Die NIOBE legt sich auf die Seite. Sie versinkt. Es bleibt nur der Bodanrück.
Daß es nahezu dunkel ist, tut gut. Sie sind ohnehin mehr unter als über dem Wasser. Er kann Annas Kopf über den Wasserspiegel stemmen, aber dadurch drückt es ihn selber
unters Wasser. Untergehen? Noch einmal alles von vorn,
Anna. Sich unter sie bringen, sie auf ihn, dann ruhige
Schwimmbewegungen. Aber sie ist zu schwer. Die Wellen
schlagen über ihnen zusammen. Er wird das nicht schaffen.
Anna. Dann. Dann, Anna, dann zusammen. Er hätte ihr die
Schwimmweste richtig anziehen sollen. Verdoppeln. Die
Beinarbeit verdoppeln, verdoppeln, verdoppeln. Dann bleibt
dein Kopf über Wasser. Und er verdoppelt. Eines ist ganz sicher, dieser Schmerz vom Verdoppeln der Beinarbeit, den 40
hält er aus, den hält er leicht aus, den hält er ewig aus. Wenn
etwas unvorstellbar ist, dann das Nachlassen seiner Kraft, die Verlangsamung der Beinarbeit. Anna, hörst du? Annas
Kopf hochhalten, du unter Wasser, du brauchst keine Luft mehr, dir genügt die Zehntelsekunde zum Luftschnappen,
Annas Kopf muß droben bleiben, die Wellen brechen sich an
ihrem Kopf, die Blitze sind doch belebend, der Donner auch,
alles hilft, deine Beinarbeit zu verdoppeln, nichts als verdoppeln, und Annas Kopf hinaufstemmen und nach Luft
schnappen und die Beinarbeit verdoppeln. Dann tasten, gibt
es schon Grund, die Tannen schwanken, stürmische Begrü‐
ßung, Gottlieb, das sind die immer ins Wasser reichenden Bodanrücktannen, du hast Grund unter den Füßen. Jetzt
schleif sie, schlepp sie hinauf und leg sie dem Wald zu Füßen. Als hätte sie darauf gewartet, öffnet sie die Augen.
Aber gleich fallen sie ihr wieder zu. Es war ein Blick, den du
nicht verstehst. Ein Blick, der nicht dir galt. Ein mit nichts rechnender Blick. Und hustet. Endlich hustet sie. Hustet und
spuckt. Spuckt Wasser. Und er keucht. Hechelt. Wie ein
Hund. Ganz kurz und ganz schnell. Er ringt nach Luft. Er kriegt noch lange nicht soviel Luft, wie er brauchte. Und sie
spuckt Wasser. Und er wird ewig nach Luft ringen. Nie mehr
wird er soviel Luft kriegen, wie er brauchte.
Anna hob ihr Gläschen, wartete, bis er seins auch hob. Na
dann, zum Wohl, sagte sie und er sagte, ein bißchen
verspätet, zum Wohl. Weißt du was, sagte sie. Wie sollte ich,
sagte er. NIOBE wartet, sagte sie. Er konnte nur schauen.
N I OB E, sagte sie noch einmal. Wir waren seit zwölf Tagen nicht auf dem Wasser. Stimmt, sagte er. Also, sagte sie. Er tat, als schaue er nach dem Wetter, schüttelte den Kopf.
41
Vorwarnung, sagte er. In einer halben Stunde kocht der See.
Schade, sagte sie, ihr sei heute so nach Segeln. Und streckte
und dehnte sich. Gottlieb sagte: Mir auch. Aber, sagte er, fügen wir uns. Abgesehen davon, übermorgen sei die
zweimal verlängerte Frist für die Steuererklärung abge‐
laufen, und er sei noch mitten drin. Und stand auf und ging
zu Anna hin und zog sie hoch und legte seine Arme um sie
und sagte: Er habe sie noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick. In diesem Augenblick, sagte sie, wieso denn
das. Es ist der Augenblick der Liebe, sagte er. Verstehst du?
Nein, sagte sie. Gut, sagte er, küßte sie überall hin, nur nicht auf den Mund, und ging hinein, an seinen Schreibtisch, auf dem die Papiere für die Steuererklärung, übersichtlich
geordnet, auf ihn warteten.
Aber bevor er anfangen konnte,
Weitere Kostenlose Bücher