Der Augenblick der Liebe
dann hätte
Anna höchstens noch ein wenig den Kopf geschüttelt, so
langsam, daß es aussähe, als suche sie für ihren Kopf eine Lage, in der er bleiben könne. Jetzt aber, bei der ersten Tasse
Kaffee und beim ersten Calvados, reagierte sie doch so
neugierig, als sollte Gottlieb ihr in Gegenwart der Besucherin
etwas erklären, was er ihr verschwiegen habe. Ach nein,
doch nicht verschwiegen, einfach nicht gesagt hatte er ihr, daß vor Wochen ein Brief aus North Carolina eingetroffen war, geschrieben von einer Beate Gutbrod, die fragte, ob sie
kommen dürfe, es handle sich um La Mettrie.
La Mettrie, das war einmal ein Thema gewesen. Eines der vielen Themen, mit denen Gottlieb sich die Zeit vertrieb, die
er hatte, seit Anna das Geld verdiente. Er besorgte den Haus‐
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halt und das Schriftliche, Anna den Handel, den Immo‐
bilienhandel. Als er dieser Beate Gutbrod geschrieben hatte,
sie könne, wenn sie nichts Besonderes von ihm erwarte, gern
zu einem Kaffee auf der Terrasse kommen, hatte er es nicht
für nötig gehalten, Anna zu sagen, da komme eine von einer
Uni aus North Carolina, die in Langenargen eine Großtante besuche und ihn bei dieser Gelegenheit auch besuchen wolle,
da sie eine Doktorarbeit darüber schreibe, wie La Mettrie in
Deutschland aufgenommen worden sei. Wann aufgenom‐
men, warum so spät und wie dann. Im Internet hatte diese Beate Gutbrod offenbar entdeckt, daß Gottlieb vor fünfzehn
Jahren in einem Anfall von Begeisterung zwei Aufsätze über
La Mettrie geschrieben hatte.
Hier heiße ich Zürn, sagte Gottlieb jetzt. Er tat, als bemerke
er Annas kritische Neugier nicht. Die Besucherin sollte den Eindruck haben, seine Frau sei informiert darüber, daß er unter dem Namen Wendelin Krall über La Mettrie veröffent-licht hatte. Gewußt hatte sie es einmal. Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Verwitterte Inschriften im Ehegestein.
Vielleicht wußte Anna wirklich nicht mehr, daß ihr Mann
jedes seiner wenigen Themen unter einem anderen Namen
bearbeitet hatte. Und für La Mettrie war eben Wendelin Krall
zuständig gewesen. Den Satz, daß er hier Zürn heiße,
begleitete Gottlieb mit Gesten, die der Besucherin sagen
mußten, hier am Tisch, hier beim Tee heiße ich Zürn. Warum
sollte er dieser Besucherin die Innenansichten seiner Ehe präsentieren. Auch wenn Gottlieb nur sogenannte Tatsachen
mitteilen würde, wüßte so eine Besucherin nichts über diese
Ehe, sondern nur das, was er ihr über diese Ehe mitteilen wollte. Was verstünde denn eine Besucherin, wenn er jetzt 9
Annas deutliches Informationsdefizit mit den Sprech‐ und
Sprachgepflogenheiten dieser Ehe erklärte! Daß sie, wenn
nicht gerade Kinder da sind, nach einander frühstücken, ist der Ausdruck einer Übereinstimmung, die eine Besucherin
nicht begreifen kann. Überhaupt vollzieht sich das Gespräch
zwischen ihm und Anna auf einer für eine Besucherin vor Höhe unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die
feinsten. Nur daß Sieʹs wissen. Je weniger sie mit einander sprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklär mal
einer Besucherin. Je länger sie nicht mit einander sprechen, desto näher kommen sie einander. Also wegen einer
Besucherin, die zum Kaffee kommt, weil sich das mit dem Besuch der Großtante namens Mimi verbinden läßt, wegen
einer solchen exemplarischen Unwichtigkeit das sich
geradezu samtig anfühlende Einvernehmen des Schweigens
dem Mißverständnis einer Touristin auszuliefern − nein,
danke.
Andererseits hatte die so eröffnet, daß er hoch eingestiegen
war. Das war ein Duett. Diesem Duett nachhörend saßen sie
dann. Zu wissen, woran jetzt jeder an diesem Tisch denkt, brächte einen weiter. In der Menschenkenntnis. Die es nicht
gibt. Weil keiner in den anderen hineinsieht. Wenn er der Besucherin sein und Annas einvernehmliches Nichtssagen
erklären könnte, wüßte sie immer noch nicht, wie wichtig Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht.
Er sitzt, sie räumt auf, er kann nur sitzen, starren, sie aber redet, und das tut sie für ihn. Zustimmend schweigen, das kann er noch. Sie plappert bewußt, macht deutlich, daß sie jetzt nur plappert, damit demonstriert sie, man könne doch immer noch plappern, Quatsch reden. Es kann sein, sie
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versackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er
an. Er schafft nicht halb soviel Stimmung oder wenigstens Akustik wie sie. Und gibt auch gleich auf. Dann ist die Stille,
die
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