Der Augenblick der Liebe
können, woran sie ihn in dieser Nacht gehindert hatte. Und dann diese Besucherin. Mit der Sonnenblume. In
deren gelbumflammte dunkle Unergründlichkeit konnte er
jetzt starren.
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2.
Anna kam, er saß immer noch auf der Terrasse. Guten
Abend, sagte sie und ließ ihre Lippenpartie ein bißchen
entgleisen. Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sieʹs gern?
Gottlieb sagte: Unglaublich.
Und Anna: Vor allem die Sonnenblume.
Gottlieb nickte so sachlich wie möglich. Anna legte auf den
Tisch, was sie geleistet hat, den Pfullendorfer Abschluß, die Hälfte der Provision, per Scheck, EURO 6000. Gottlieb stand
auf. Er würde das sofort buchhalterisch erledigen. Gratuliere,
sagte er. Ich dir, sagte sie. Ja, sei doch tief rührend, kommt so eine jung‐schön‐gescheite Philosophin aus Amerika, um
Wendelin Krall anzuschauen. Wie ich sehe, habt ihr das
gebührend gefeiert. Zeigte auf die halbleere Calvados‐
Flasche. Und daß er mitgetrunken habe, zeige doch, wie
nahe ihm dieser Besuch gegangen sei.
Gottlieb konnte jetzt nicht sagen, daß er erst getrunken habe, als die Besucherin wieder weg gewesen sei. Das war ja
noch viel schlimmer, als mit ihr zusammen zu trinken. Jetzt
nimmʹs nicht so schwer, sagte Anna, vierzig Jahre, das kann
man doch auf sich beruhen lassen. Gottlieb dachte: Woher weiß sie das, vierzig Jahre, es können genau so gut
zweiunddreißig Jahre sein oder sechsunddreißig. Typisch
Anna. Alles so negativ wie möglich. Immer schon. Immer ist
alles zu Ende. Sie zieht dich hinab. Nicht absichtlich.
Unwillkürlich. Ihre Spezialität, in allem das Ende herauszuspüren. Besonders an lichtlosen Tagen. Sie war immer
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lichtabhängig. Das Licht regelte alles bei ihr. Wenn sie Ende
Juni spazieren gingen und alles noch blühte und grünstens prangte, konnte sie sagen: Der erste Herbsttag heute. Und das lag am Licht. Wenn er, durch sie aufmerksam geworden,
dieses Licht mit seinen Sinnen prüfte, mußte er ihr recht geben, durch irgendwelche Druck‐ und Feuchtigkeitsum-stände war trotz aller Grünherrschaft ein Hauch kühles Gold
in der Luft, ein Herbstschimmer, unverkennbar. Er, vom
oberflächlich herrschenden Grün eingenommen, hätte das
nicht bemerkt.
Er ging an ihr vorbei, zeigte, daß er die Papiere versorge, den Scheck werde er morgen gutschreiben lassen. Bloß kein
Gespräch jetzt. Er mußte ihr jetzt bestätigen, daß auch er der
Ansicht sei, eine vierzig Jahre jüngere, das könne man auf sich beruhen lassen. Auf sich beruhen, oh Anna! Ist ja gut.
Solange er nichts sagen muß, erträgt er alles. Wenn er ihr nur
nicht ins Gesicht sagen muß: Stimmt, vierzig Jahre, da
erlischt jedes Problem! Sie sagte, sie habe sich doch auch darüber gefreut, daß Wendelin Krall noch so schöne
Wirkungen zeitige. Von seinen Pseudonymen sei ihr
Wendelin Krall immer das liebste gewesen. Das sei doch
einfach ein lieber Name. Wendelin Krall. Er nickte. Verbarg,
daß er staunte. Berührte sie leicht an der Schulter. Dann hörte er sich sagen, er müsse noch wegfahren, heute. Wohin,
fragte sie. Er komme ja gleich wieder, sagte er. Er holte seinen Autoschlüssel, gab sich eilig, fuhr ab. Nur nichts sagen müssen jetzt. Daß das erwartet, ja verlangt werden kann, immer alles sagen! Das ist doch Seelenmord. Er will doch selbst nicht wissen, wie es in ihm momentan aussieht.
Und dann soll er es Anna so sagen, daß sie es nicht nur 28
versteht, sondern auch noch billigt! Ohne zu lügen nicht zu machen. Und lügen in Gottliebs Alter − das war Seelenselbst-mord. Er war sich im Augenblick nur erträglich, wenn er nichts sagen mußte. Einfach nur tun, was er mußte. Aber nichts sagen, nichts erklären. Jetzt fuhr er also offenbar nach
Langenargen. Und durch Langenargen, bis zur Uferstraße.
Eine Großtante, die im Mercedes zur Bridgepartie nach Bad
Schachen fährt, haust nicht in einer Zweizimmerwohnung.
In der Gegend der Villen hatte Gottlieb, als er noch den Han‐
del besorgte, mehr als ein Haus von innen kennengelernt.
Eine Familie Gutbrod hatte nie zu seinen Kunden gehört,
weder als Käufer noch als Verkäufer. Aber vielleicht hieß die
Großtante gar nicht Gutbrod. Beate Gutbrod. Er konnte sich
nicht vorstellen, die Besucherin je Beate zu nennen. Sie hatte
mit fortschreitendem Calvadoskonsum manchmal von ame‐
rikanischen Gewohnheiten Gebrauch gemacht und ihn
Wendelin genannt. Immer eingebettet in Sätze. Nie am
Anfang oder am Ende eines Satzes. Immer deutlich in
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