Der Augenjäger / Psychothriller
trägt oft einen harmlosen Namen. Vor langer Zeit, als ich noch so etwas wie ein Leben hatte, führte ich einmal ein Interview mit einer völlig traumatisierten Frau. Obwohl das, was ihr zugestoßen war –
ihre unerwünschte Wachheit
– schon Jahre zurücklag, litt sie noch immer unter Panikattacken. Hatte Lara Weitzmann davor kein Problem mit kleinen Räumen gehabt, hielt sie es danach selbst im Großraumbüro meiner Zeitung nicht mehr aus. Nach zwei erfolglosen Interviewanläufen, in denen wir nicht über die erste Frage nach ihren unvorstellbaren Schmerzen hinausgekommen waren, mussten wir abbrechen und das Gespräch an einen weitläufigeren Ort verlegen. So kam es, dass ich im strahlenden Sonnenschein im Tiergarten den alptraumhaften Schilderungen einer jungen Frau lauschte.
»Es war nur eine Zyste im Unterleib«, begann Lara Weitzmann leise, und noch immer fröstele ich, wenn ich mich an ihre brüchige Stimme auf dem Band meines Diktiergeräts erinnere. Eine Stimme, die so gut zu Laras äußerer Erscheinung passte, als hätte ein Regisseur sie exakt für diesen schwachen Körper ausgesucht. Das Trauma hatte schwere Löcher in ihre Psyche gerissen, und bei näherem Hinsehen konnte man die sogar erkennen. Lara war so dünn, ihre Haut so hell und pergamentartig, dass man befürchten musste, die Sonnenstrahlen würden direkt durch ihren Körper hindurchfallen, sobald sie sich ins Licht stellte.
»Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt«, sagte Lara und schüttelte den Kopf, als könne sie es immer noch nicht glauben.
Ihr Chirurg hatte schon Tausende solcher Routineeingriffe hinter sich, und auch bei ihr gab es zunächst keine nennenswerten Komplikationen. Zumindest keine, die die Entfernung ihrer Zyste betrafen.
Alles geschah so wie bei unzähligen Operationen zuvor. Mit nur einem Unterschied: Lara Weitzmann war
nicht
bewusstlos. Bis heute weiß man nicht, ob das Narkosemittel falsch dosiert worden war oder ob sie an einer seltenen Anomalie litt, bei der der Körper generell auf eine Anästhesie nicht anspricht. Die Medikamente hatten lediglich ihre motorischen Fähigkeiten gelähmt. Lara war wach, konnte sich aber nicht bemerkbar machen. Konnte nicht zeigen, dass sie alles spürte: Das Skalpell, das ihre Bauchdecke auftrennte. Die Stahlklammern, die in ihren Körper eingeführt wurden, um die Operationswunde offen zu halten. Und auch nicht die Nadelstiche, mit denen die Wunde nach knapp einer Stunde wieder vernäht wurde. Sie hatte ihren Schmerz den Ärzten und Schwestern entgegenbrüllen wollen, die sich während des Eingriffs über die Schwierigkeiten ausgetauscht hatten, heutzutage einen ausländerfreien Kindergarten in Berlin zu finden. Vergeblich. Niemand konnte ihre innerlichen Schreie hören, die noch heute in ihr tobten.
Unerwünschte Wachheit.
Patienten, die während der Operation mit vollem Schmerzbewusstsein aufwachen und sich nicht bemerkbar machen können.
Statistisch gesehen geschieht das so selten, dass wir eine Zahl mit Nullen vor und hinter dem Komma brauchen, um es darzustellen. 0,03 Prozent. So unwahrscheinlich wie ein Blitzeinschlag bei Sonnenschein. Das klingt beruhigend, zumindest, solange man nicht darüber nachdenkt, dass man auch drei von zehntausend sagen könnte. Dreißig Menschen im ausverkauften Olympiastadion. Selten, aber nicht unvorstellbar.
Seit ich zum Spielball des Augensammlers geworden bin, des Mannes, der meine Frau umgebracht und meinen Sohn verschleppt hat, weiß ich, wie Lara Weitzmann sich damals auf dem OP -Tisch gefühlt haben muss. Als sie bei lebendigem Leib aufgeschnitten wurde und die verabreichten Schmerzmittel so wirksam waren wie ein Pflaster auf einem gebrochenen Rücken.
Wir können noch so oft versuchen, uns mit Statistiken einzulullen, die das Lebensrisiko herunterspielen. Irgendjemand ist immer der traurige Fall, der für das Komma hinter der Null verantwortlich ist. Und manchmal ist man es eben selbst. Dann sieht man mit eigenen Augen, wie der Blitz einschlägt, obwohl die Sonne scheint, so wie heute an diesem bitterkalten Dezembertag, als ich endlich vor dem Versteck stehe, in das der Augensammler meinen Sohn verschleppt hat. Er gab mir fünfundvierzig Stunden und sieben Minuten Zeit, um ihn zu finden. Sollte ich zu spät kommen, nur eine einzige Minute, würde Julian automatisch in seinem Verlies ersticken. So sind die Spielregeln. Genauso pervers wie unabänderlich. Ich weiß daher, was mich erwartet, als ich das Schott öffne und in die
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